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Srite 12 Rr. 10.

Richtung gab, die echte war. Drei blühende Söhne im kräftigsten
Mannesalter sicherten dem, seit langem Krankenden, den ge-
sepneten Iortbestand seiner alten Gelehrten-Familie. Den ersten
raffte der Tod unerwartet vor mehreren Jahren aus dem
glücklichsten Familienleben hinweg, der zweite blieb als Haupt-
mann, der dritte als Vizefeldwebel in diesem Krieg.
Das härteste Los des Alters, das Leben, um deffen Fortbestand
es willig das seine geben würde, zu begraben, ist ihm aufgespart
gewesen, und mit fester Hand und dem Bewutztsein, wie hoch
ihn Gott würdige, so schwere Opfer zu bringen und so große
Heimsuchungen mit Gelaffenheit zu tragen, schrieb er unter
ihre Todesanzeige: in tiefer, stolzer Trauer. So stehen auch
wir, stehen auch unsere Leser an seinem Sarge, wie er an dem
der jungen Söhne: in tiefer, stolzer Trauer.

Gemeine Naturen zahlen mit dem, was ste tun, edle mit
dem, was sie sind. Das will sagen, datz es lediglich der Wert
der Persönlichkeit ist, der den Segen oder Unsegen, der vom
Menschen ausgeht, bestimmt. Ein Charakter bildet sich nicht
nur, wie der Dichter sast, im Strom der Welt, sondern noch
viel mehr im Strom des Blutes. Lange bevor der Mensch
zum Bewußtsein erwacht, hat sich, wie er Nerven, Fleisch und
Knochen, Farbe und jegliche körperliche Eigenschaft von der
Schar der Toten und wenigen Lebenden empsängt, der
Eharakter in ihm in seinen Grundanlagen gebildet: der Segen
bis ins tausendste Glied, der von frommen, menschenfreundlichen
und ehrenhasten Vorfahren ausgeht. Auch das Leben des
Dahingeschiedenen hat auf Schritt und Tritt eine Reihe treff-
licher Gestalten begleitet: sein Unabhängigkeitsgefühl, seine
strenge Gerechtigkeit, sein fester und wohlbegründeter
Stolz auf das, worauf stolz zu sein dem Manne
wohl ansteht — das alles stützt sich auf die Schultern
würdiger Väter, deren wert zu sein er von Kind
an die Verpflichtung empfand. Es stnd hierbei nicht allein
die Tugenden des Gelehrtenstandes gewesen, die Pantenius'
Vorfahren zu pflegen hatten. sie waren auch Pioniere des
Deutschtums inmitten russischer Bedrängnis. Er war ein
Balte, und das will sagen, daß er der Sohn eines Herren-
volkes war, das, bei jeder rühmlichen Sorgsalt für die stttliche
und kulturelle Hebung des lettischen Volksftammes, stch doch
jederzeit dewußt war, Vertreter der höheren Raffe zu sein.
Dic prächtigen Gestalten, die Kurland hervorbringt, macht
ihm kein andres Land der Erde nach; ein Stück Mittelalter
in der besten Bedeutung des Wortes ist dort lebendig ge-
blieben, nirgends vielleicht tritt das deutfche Wesen so unge-
brochen und herrlich gradlinig hervor. Daher auch der
Überfluß an Originalen dort; denn, wenn der moderne
Denker bissig genug bemerkt, daß der deutsche Philister vor
nichts mehr Ängst habe. als sich lächerlich zu machen, so
trifft für das unbesangene Selbstbewußtsein der kurischen
Naturen durchaus das Gegenteil zu.

War so das Erbteil, das die Heimat ihrem Sohn mitgab,
reich genug, so war die Familie ein Hort noch befferer Gaben.
»Der redliche Pantenius" wurde der Großvater genannt; der
Vater, ein Pastor in Mitau, starb in jungen Jahren als
Opfer seiner unermüdlichen Arbeit in seiner Gemeinde während
einer Choleraepidemie. Gina der Sohn später an der Hand
der Mutter durch die stillen Straßen der Vaterstadt, so zeigte
sie ihm die HSuser, in denen seine Vorsahren gewohnt hatten
und schilderte sie ihm in ihrer Eigenart und Haltung. „So
sehr diese stch auch untereinander unterschieden", sagt er selbst,
„so schroff, kantig, ja wunderlich ste sich zum Teil gaben, ste
waren doch alle starke, wahre und stolze Männer, die, den
Hut nicht in der Hand, sondern auf dem Kopf, aufrecht durch
das Land schritten. Jedermann bekannt als pflichttreu, zu-
verlässig und fleißig. Kcin verschlagencr Streber, kein fauler
Windbeutel, kein himmelnder Phantast war unter ihnen.
Und indem fich die empfängliche Seele des Kindes mit Bildern
von ihnen ersüllte, entftand ganz von selbst in ihr die Er-
kenntnis, daß diese Abstammung auch Forderungen stellte und
Pflichten auferlegte."

Aus solchem Boden entwickelte stch der Mann, der sein
Leben lang keine Richtschnur gekannt hat als die des Ge-
wiffens. Gewiffenshalber trat er, der aufrichtta Gläubige,
nach beendetem Studium der Theologie von seiner Absicht,
dem Vater im Pfarramt zu folgen, zurück, gewissenshalber
erwählte er den Beruf, zu dem er fich wirkiich „berufen"
fühlte: die Arbeit eines Schriftstellers. Als Gewifsenssache
hat er auch seine Tätigkeit am Daheim aufgefaßt und geübt.

So hoch Pantcnius' Standpuntt war, so war sein Blick
doch nicht in besonderm Maß die Weite beherrschend. Dies
ist der Weg, denselbigen gehet, sonst weder zur Rechten noch
zur Linken, stand über seinem Leben geschrieben. So hell
und sonnenhaft sein Auge die Bahn erkannte, so dunkel
und unbekannt lagen rückwärts die Gebiete, die - er
ablehnen zu müffen glaubte. Er kannte sie nicht und wollte
ste nicht kennen, aus jenem achtungswürdigen, aber etwas
engen Standpunkt heraus, der das Gemeine am nachdrück-
lichsten abzulehnen glaubt, wenn er es ignoriert. Zu dem
gewaltigen Drängen und Vorwärtstreiben seiner Zeit, in die

die Glanzperiode des Naturalismus fällt, hatte er keine Füh-
lung, und statt die soziale Aufgabe der realistischen Darstellung
zu würdigen, stand er ihr mit einer eistgen Ablehnung gegen-
über Wie sehr auch immer man diese Ablehnung früher
bedauert und als Ungcrechttgkcit empfunden haben mag, so
muß man doch heute sagen, daß wenigstcns der Instinkt, der
ihn führte, durchaus richtig war. Alle Menschen, in
denen das Blut, die Abstammung stark ist, handeln vielfach
nach Jnstinkten; in der Gewohnheit, nach Jnstinkten zu handeln,
lag die Stärke des Mittelalters, die jene Zeit so blutvoll
gegenüber unserer spitzfindigen mit Gehirnarbeit alles be-
wältigenden Zeit macht. Wo immer der Mensch stch aus die Na-
tur zurückverwiesen steht, mag er überzeugt sein, daß der Jnstinkt
ihm ein befferer Ratgeber ist, als unsere hochgepriesene „Ein-
sicht", und wir müssen dem Kriege dankbar sein, daß er nach
ekner langen Zeit, in, der wir den natürlichen Jnstintt immer
gnadenloser der „Vernunst" überliefert sahen, wieder zu natür-
lichen Lcbensaufsassungen zurückführt. Freilich muß der Jn-
stintt durch einen durchgebildeten Charakter hindurchgehen, und
nicht etwa der eines launenhaften Mannes sein. So traf
auch Pantenius' Gefühl, so wenig es sich verstandesmäßig er-
klären läßt, das Rechte: er hat es noch erlebt, daß der
Naturalismus in der Literatur sich als eine lediglich zeitliche
Erscheinnng erwies, die natürlich während ihres vorüber-
gehenden Daseins nach verschiedenen Richtungen hin sich nutz-
bringend gezeigt hat, indeffen in keiner Weise als Erscheinung
an stch dauernd Wert behalten wird. Der beste Beweis stno
die Bücher der naturalistischen Schriftsteller, die man schon
jetzt nicht niehr zu Ende zu lesen imstande ist.

Gerade weil Pantenius in seinen eigenen Schriften —
eine Reihe seiner Erzählungen ist im Daheim erschienen — sich
als tüchtiger Realist vom Schlage eines Gustav Freitag und nicht
allzu fern von Wilhelm Raabe erwiesen hat, mußte ihm, der
äußerlich dem gemäßigten Realismus jener Zeit nicht so
fern zu stehen schien, der scheidende innere Gegensatz schärfer
und unerbittlicher als anderen erscheinen. Selbft jedem „Roman-
stil" von ganzem Herzen abhold, jeder Phantasterei und Ro-
mantik feind, den Gesetzen seiner Natur nach nur dort vor-
wärts gehend, wo er festen Grund unter den Füßen fand, —
in seiner Person somit die gesunden Forderungen des
Realismus an den Schnftsteller durchaus erfüllend, sah
er klarer, was hinter der Front war: die völlige Ideen-
losigkeit, die Unfähigkeit die obere und die untere Welt
mitcinander zu verbinden, die jammervolle Verschloffen-
heit gegenüber allem, was an Frieden, Trost und Hellig-
keit aus der Welt des Geistigen in die des Natürlichen
strömte, kurz alle Ursachen, die die damals kaum geborene
und alsbald lärmend genua auftretende Bewegung zu einem
frühen Tode verdammten. M,t dieser FSHigkeit pragmatischer,
wohlwollend objettiver aber leidenschastsloser Darstellung,
die das Licht einer theistischen Weltanschauung erhellt, war er
auch zum Geschichtsschreiber vortreMich geeignet, wovon das
letzte Werk seiner Feder, die gerade in unseren Tagcn doppelt
intereffante und wichtige Geschichte Rußlands, Zeuanis ablegt.

Das Bild dieses vornehmen und ganzen Menschen würde
kein rundes sein, wollte man jener so uncndlich wichtigen Ver-
bindungsglieder, die den Menichen, die Krone der Schöpiung,
mit den Brüdern in Busch und Tal verbindet, nicht gedenken.
Wie jeder große Mensch nicht allein, wie jeder ganze Mensch,
hatte Pantenius in ungebrochner Frische den durch die Jahr-
tausende uns ererbten, bei so vielen leider verkümmerten Sinn
für die Wunder und Geheimnisse der Tier- und Pflanzenwelt.
Trat auch hier seine verstandesmäßige Art zu urteilen mehr
in den Vordergrund, als man bei seinem in Wahrheit gütigen
Herzen annehmen konnte, — er besaß z. B. nicht jenen Grad von
Verjtändnis für das Jnnenleben der Tiere, um glauben zu
können, daß der von ihm sehr geschätzte Hund sich bei seines
Herrn etwaigem Tode so grämen würde, nach Art einiger be-
rühmten Vorbilder dis Nahrungsausnahme zu verweigern,
so zeigte er doch, während er sür sich selbst wenig forderte,
dem andern Teil jede Liebe und jedes Verständnis. Von
seinem Sinn für die Schönheit und Herrlichkeit des dritten
Reichs, wie Hebbel es nennt, hat er während seiner Tätigkeit
am Daheim gern und ost seinen dankbaren Lesern mitgeieilt.
„Hinter mir sitzt eine kleine Grasmücke und singt, und die
Sonne scheint zu mir ins Zimmer", schrieb er vor zwei kurzen
Jahren, als er Lber den schwercn Verlust seines ältesten
Sohnes, durch die lieblich beranblühenden Enkel getröftet,
eines heitern Stillebens im Kreise seiner ihn beglückenden
Familie sich ersreute. Und so würde ich mir gern die Ruhe
denken, in der er von einem langen nicht leichten, aber rühmlich
bestandenem Leben ausruht: Gottes Sonne darüber und eine
Grasmücke, ihr unschuldiges Liedchen singend, davor.

Es war nicht sein Glaube, es war sein Wissen, daß Gott
die, die einen guten Kampf gekämpst haben, auch nach ihrem
Erdendasein zu höhern und reinern Ausgaben berufen und be-
ftellen werde, und fo rufen wir ihm im Namen vieler, die ihn
geliebt haben zu: „Tapferes Herz, Gott fegne Dich, an welcher
Stelle von Gottes großem Weltall Du jetzt weilen mögest."
 
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