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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 1.1919/​1920

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Holitscher, Arthur: Das Gericht
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https://doi.org/10.11588/diglit.29152#0049
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den Schrecken, die der Tod verhüllt, aus der Gegenwart hinüber zur fürchterlich
unausdenkbaren Zeit der Äonenferne. Sein Finger streckte, sein Arm dehnte
sich, er zeigte hinüber, hinüber — —
Aber unten wütete es durch die hartgedrängte Gemeinde, und die ersten
hatten schon das Freie gewonnen. Wie Ströme durch Gestein, lief die Ver-
zweiflung der Drängenden blutunterlaufen vorwärts, hinaus, mit gesträubtem
Haar dem Tore zu, der Pforte zu, ins Freie gestoben.
Und mit einemmal kollerte ein Mensch in Krämpfen die Stufen der Kathe-
drale, des alten Doms hinunter, auf die Strafe und schlug um sich und blieb
in Schaum und Blut liegen.
Ein Zweiter. Ein Junger, die Haare verklebt, die Augen nach innen ge-
dreht, schreiend nach. Ein Weib, stürzend, auf die beiden nieder. Schrei:
„Nicht Hölle — Heute! Es ist Heute!“
Ein Paar, Mann und Frau, fiel verkrampft aus dem Tor des Doms heraus,
wie ins Freie gepreßt, hinausgequetscht, den Zuckenden nach, die Stufen
hinunter und schlug um sich und bif> in den Stein, kollerte die Worte durch
die Kehlen hinaus: „Heute — es ist ja Heute!“
Das Tor schlug, einer mit Windmühlenarmen spreizte sich in die Luft,
sprang, vom Krampf geschleudert, hoch auf, stürzte auf die Stufen: „Nidit
die Hölle — die Gegenwart!“
Und alle, die es begriffen haften, dal^ der Mönch, der entschliche Geschorene
in der Kutte mit der Blufhaube, die Gegenwart, unseren Tag, gemeint hafte,
indem er die Schrecknisse des Gerichtes schilderte, stürzten hinaus aus dem
Schiff, aus dem Raum zwischen Altar und Kanzel und Tor ins Freie und
kollerten den sich auf den Stufen und auf dem Pflaster Windenden nach und
blieben auf dem Fahrdamm liegen, im Staub und Kot, in Krämpfen, unter
der Sonne und schrien; ihre Zähne schlugen, ihre Schädel klapperten und
dröhnten gegen den Stein, den Asphalt, vor dem Dom im Sonnenlicht.
Es war am Sonnfagmorgen, an dem der Möndi predigte, und über die
breite helle Strafe, die im Stern des Domes mündete, lustwandelte eine heitere
Menge von festlich gepultem Volk, Herren, Damen, Kinder mit ihren Eltern
spazierten die Wege entlang, Reiter und blühende Kutschen fummelten sich im
hellen Licht des Frühlingstages, und die Menge hafte ihre Lust, jeder an dem
Anblick des anderen. Sie nickten einander zu, besahen sich die Vorüber-
kommenden, lächelten über die bunten Farben, die das Sonnenlicht heraus-
forderten, zeigten ihr Geschmeide, fröhlidie Gewänder und blanke Federn,
Spihen und zierliche Schuhe und die Blumen, die sie im Arme trugen, duftende
Lasten, kostbare Sträuße, nickten und lachten und freuten sich.

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