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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 2.1920/​1921

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Beyer, Oskar: Der Plastiker Barlach
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https://doi.org/10.11588/diglit.41961#0516
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instinktiver menschlicher Tätigkeiten und Lebensbeziehungen noch viel unmittel-
barer deutlich geworden wäre. Aber sein Formgefühl erstrebte (wie sich in Rußland
beim Erlebnis des Bauern erwies) ein anderes: breite Flächenhaftigkeit und schwere,
erfüllte Massenform. Der Eindruck, den man beim Anblick russischer Bauern
gewinnt, ist vor allem abhängig von ihrer Kleidung; hier läßt sich lernen, daß
Kleidung nicht von ungefähr ist, sich nicht willkürlich wegdenken und wegwünschen
läßt zugunsten vermeintlich „reiner“ Kunstwirkungen, auch die Kleidung weist immer
irgendwie auf menschliches Wesen zurück und auf die Art, den Wert seiner Kultur-
gesinnung. Die russische Volks- und Bauerntrachf, die den Körper architektonisch
rhythmisiert, in wenige klar überschaubare Verhältnisse zerlegt, diese troß ihrer
natürlichen Tendenz zum Monumentalen dodi immer einfache, ja demütige Tracht
ist durch Bariah bis zur alleräußersten Strenge und Reinheit der nur formalen
Bedeutung aufgelöst. Er bezieht sie immer vollkommen ein in den Kompositions-
zusammenhang seines Werkes, sie ist kein Hinzugekommenes, Darübergelegtes,
Sekundäres, sondern ein vomKörper Unwegdenkbares, mit dem dieser gewissermaßen
verwachsen, ja eins geworden ist; schon in derVision des Künstlers ist diese Einheit da.
Die reine Formbedeutung der Kleidung tritt innerhalb seines plastischen Gesamt-
werks in zweifaher Weise zutage: entweder mehr verhüllt und instinktiv, oder offen
und bewußt (von einer „Entwicklung“, etwa vom Ungerafften hin zum Mathematisch-
Unbedingten läßtsih hier niht reden, da Beispiele beider Behandlungsarten sih zu
allen Zeiten seinesWirkens nahweisen lassen und derEntwicklungsbegriff überhaupt
auf Bariah kaum in Anwendung kommen kann). Die an erster Stelle genannte Art
mähe man sih etwa an dem »Wüstenprediger« oder dem »Einsamen« deutlich,
während die bewußtere, verschärfte Hervorwendung des Geometrisch-Tektonischen
beim »Ekstatiker« erfolgte, oder bei der sißenden »Bettlerin«, die ganz von ihrem
Mantel verhüllt ist. In beiden plastischen Lösungsarten ist eine (mehr oder weniger)
leidenschaftliche Zusammenraffung des Vielerlei, aus dem sih das optische Bild
einer bekleideten menschlichen Erscheinung zusammenseßt, zu wenigen starkerfaßten
Flächeneinheiten wahrnehmbar. Für die Körpergebärden, die Formbewegungen der
rundplastischen Werke Barlachs ist dies bezeichnend, daß sie fast immer extremer
Natur sind, immer Spannungen ausdrücken. Man sehe den »Zedier«, die »Bettlerin«,
den »Ekstatiker« und lerne am Rhythmus ihrer Umrißlinien, ihres Aufbaus die Mäht
der auszudrückenden triebhaften Funktion bemessen. — Hin und wieder hat er
zwei Gestalten, die in irgend einer inneren Lebensbeziehung zueinander stehn,
in eine organisch geschlossene Gruppe gebunden — die »Schlafenden Vagabunden«
und die von einem himmlischen Phänomen erschreckten beiden Wanderer seien hier
als Beispiel genannt. Wir sehen solche Gruppen beherrscht durch dasGeseß paralleler
Bewegungen, im einen Falle ist es die schwere parallele Lagerung des vegetativen
Körperdaseins, im anderen die parallele Dynamik erregter Sdireckgebärde. Einmal
kommt auch eine — leider viel zu klein geratene — dreifigurige Gruppe vor: Bauern-
weiber in stroßender Jugendfülle, deren jede sißt, wie nur Parzen süßen, deren jede
schaut, als sollte die Erde durch dieses dreifadie, nach drei verschiedenen Richtungen

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