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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 4,1.1924

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Benoist-Méchin, Jacques: Nationalismus: an E.R. Curtius
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https://doi.org/10.11588/diglit.42396#0019
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NATIONALISMUS
AN E. R. CURTIUS
BENO IST ME CH IN
AUF dieser schwankenden und unsicheren Plattform, die von Basel bis Köln reicht,
diesem schmalen Erdstreifen, auf dem sich die Zukunft Europas vorbereitet, sucht der
moderne Mensch seine Form und das Wesen seiner Bestimmung. Dort treten die feind-
lichsten Weltanschauungen, die entgegengesetzten Geistesrichtungen zum blutigen Kampf
an. Und zwar vor allem die Grundsätze des Nationalismus und des Internationalismus, die
die Parteien trennen und sogar die selbstsichersten Herzen in Verwirrung bringen: ein
auf seinen Bereich übrigens schwer zu beschränkender Konflikt, der eine ganze Reihe
anderer voraussetzt und durch seine bloße Existenz (angewandt auf die Kunst) einen
an Anarchie grenzenden Zustand geistiger Verwirrung bezeichnet.
Es ist nicht überflüssig, noch einmal auszusprechen, daß die Welt mit den Jahrhunderten
kleiner geworden ist und daß der Ozean heute nicht mehr so groß ist wie der, welcher
die Karavelle des kühnen Genuesers zu unbekannten Kontinenten trug. Aber der Geist
hat die Zeiten durchlaufen, ohne seinen Umfang zu verändern, und auch seine spezifischen
Eigenschaften sind dieselben geblieben: die alten Kategorien genügen ihm ebenso wenig
wie die alten Maße. Die Welt um ihn herum hat sich verändert, er aber ist unver-
änderlich geblieben. Daher sind die einander nähergekommenen Länder durch ihre
Rassen- und Kulturunterschiede in einen Gegensatz von immer wachsender, bis zur
Verzweiflung getriebener Schroffheit zueinander geraten. Solange die benachbarten
Länder der Weltkugel eine solche Verschiedenheit in der geistigen Spannkraft und
„Temperatur“ zeigen, ist es für den Geist schwierig, sich ein einigermaßen stabiles
Aktionsfeld zu schaffen. Er zeichnet von der Welt ein schwankendes und unruhiges Bild.
Er ist nur zu sehr versucht, die verschiedenen Bewegungen auf ein bequemes Mittel-
maß zurückzuführen, das mit keiner der Sonderbewegungen vereinbar ist: er rühmt
sich, international zu sein, wenn er nur kosmopolitisch ist. Das bedeutet aber nichts
als: überall heimatlos zu sein. So stellt sich zu Beginn unserer Betrachtung das Dilemma
Nationalismus oder Internationalismus dar. Und der Gedanke hat die Wahl zwischen
jenem absurden Mittelding oder einer Sonderbewegung. Mit Gide denke ich, daß die
Lösung dieses Problems keinen Schritt vorankommen wird, solange diese Alternative
nicht ausgeschaltet ist.
Aber noch mehr: von dem Augenblick an, in dem der Planet sich verengerte, in dem
die Welt für die sie durchzuckenden Differenzen empfindlicher geworden war, entstand
eine neue Lebensordnung, die gegen diese Differenzen ebenso gleichgültig ist wie
gegen jede gegebene Größe, eine mechanische Ordnung, die allmählich an die Stelle
der bis dahin herrschenden natürlichen Ordnung zu treten suchte: die Industrie legte

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