Die Berge von Cadore
Ausschnitt aus dem Tizianschen Gemälde „Mariä Tempelgang“ (S. 86)
DAS LEBEN TIZIANS
n den Bergen von Cadore, deren blaue Zacken man abends von der Lagune aus
in die klare Luft ragen sieht, ist Tizian zu Hause.
Die Straße von Italien nach Tirol führt hier in raschem Wechsel an den düsteren
Granitriesen der Dolomiten und saftig grünen Matten vorüber, im Tal der herabbrausenden
Piave entlang, die kühne Brückenbögen Überspannen. Ein Kastell beherrscht das Tal
und den Ort. Berge und düstere Wälder, Schluchten, grüne Abhänge und alte Burgen, be-
freiende Blicke von Höhen auf die Majestät ferner Berggipfel in Duft und Schnee —
es waren die ersten Natureindrücke des Malers, die ihm zeit seines Lebens treu bleiben
sollten, mit manchem anderen von der Heimat.
Aus der kräftigen Bevölkerung, die in den Bergwerken das Erz gewann oder
als Holzfäller in den Wäldern das Baumaterial schlug, das drunten zu Venedig in un-
endlichen Flößen lagerte, hob sich schon seit Generationen die Familie der Vecelli
durch Tüchtigkeit und Ansehen heraus. Gregorio Vecellio, des Künstlers Vater, hatte
sein halbes Leben als Soldat der Republik gedient und stand in öffentlichen Ämtern
an der Spitze der heimatlichen Gemeinde von Pieve di Cadore, als Tizian 1476 oder
1477 geboren wurde. Ehren, doch nicht Reichtümer waren der traditionelle Besitz
seiner Familie. Der Vater mag nichts Befremdliches darin gesehen haben, als sein
Sohn sich der Kunst zuwandte.
Bei den Malern von Heiligen- und Weihbildern in den Alpennestern war für
einen angehenden Künstler kaum das Handwerkliche zu lernen. Der Unterricht in der
Kunst aber begann in jener Zeit früh. Als Kind von neun oder zehn Jahren kam
Tizian, zugleich mit seinem wenig älteren Bruder Francesco, in die Lehre nach Venedig,
wo ein Bruder des Vaters wohnte.
Von da an fließen über sein Leben die Nachrichten so spärlich, daß wir kaum
seinen Lehrer wissen. Fast läßt es gleichgültig, ob er die Anfangsgründe bei dem
unbedeutenden Sebastiano Zuccati gelernt habe, wie eine Quelle berichtet, oder ob er
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