RÖMISCHE ANFÄNGE
UND DIE DECKE DER ERSTEN STANZE,
DER PARNASS, DIE JURISPRUDENZ
Wir wissen nicht, wann Raphael nach Rom kam und was ihn zwischen dem
Abschluß seinerW^nderjahre und dem Aufschwung seiner Arbeiten in der
Stanza della Signatura beschäftigte. Aber bei einer i berschau der Zeich-
nungen wird es klar: nicht die römischen Kindrücke waren es, sondern der
Auftrag selbst, was ihn über sich hinaushob.
Noch lange schwangen die großen formalen Anregungen aus Florenz weiter in ihm
und verstärkten sich vor der Antike, vor Michelangelos Papstgrab und Fresken, und sie
verdichteten sich ihm zu Visionen groß getragener, kühn bewegter, ringender und leiden-
der Körper. Der Zeichner wird ihrer noch immer mit der Feder Herr und in fließenden,
selten abreißenden Konturen erfaßt er ihre Form und das Bewegliche der Muskeln
und Bander. Heroische Kompositionen erstehen so, im Wetteifer mit den Schlachten-
Kartons und mit dem barocken Vor und Zurück römischer Sarkophag-Reliefs. Sie über-
tretfen jene bewunderten Oxforder Schlachten aus den letzten Wanderzeiten an Fülle
der spannenden Motive und noch womöglich gesteigertem Pathos. Kaum eine davon ist
uns im ()riginal erhalten. Aber die zahlreichen Kopien aus älterer Zeit verraten ihre frühe
Wirkung.
Die Überwältigung eines Jünglings (Abb. 190/191) bringt zu der gewohnten anima-
lischen Kampfeswut ein seelisches Element und bei der Gruppe derThimoklea schürzt sich
inmitten gestellter Gruppen ein dramatischer Konflikt, würdig des großen Historienmalers
in der zweiten Stanze.
Aber noch immer sind es Vorgänge, an nackten Figuren studiert, eine Gewohnheit, die
bis in die vorbereitenden Entwürfe zur Disputa und zum Parnaß herrscht. Krst der Auf-
trag der Stanze mit der Größe dessen, was von ihm verlangt wurde, brachte auch den
Reichtum der Einfälle und damit eine ihm selbst ungeahnte Vielseitigkeit des Ausdrucks
in die Zeichnung.
In allen Techniken, Feder, Silberstift, Kreide, Rötel, bereitet er schon die Bilder der
Decke vor und, rein äußerlich angesehen, übertrilft diese Sammlung von Blättern an Form,
Ausdruck, Farbe, kühnem Andeuten und überlegenem Ausführen alle bisherigen Gruppen.
Für die immer genauer errechnete Präzision in den Gruppen der Grablegung war der
in fester Bahn die Form umgrenzende Federzug gerade das angemessene gewesen.
Aber schon die Wallungen und der erregte Atemzug der jungen Mutter mit dem stür-
mischen und trinkenden Kind und der helle Tag, der wie zum Ausgleich der inneren
Seligkeit die Figuren umhüllte, mußten diese Linien sprengen.
.letzt in Rom kommt aus der ihm neuen Helligkeit des Freskos, der Vision so vieler
überirdischer Wesen ein ungeahnt lichter Stil derZeichnung: oft runden sich die Formen,
nur an einer Seite begrenzt, mit überblendetem Kontur, Bogensegmente scheinen über
das Papier zu irren und bilden doch in instinktivem Sichfinden die entscheidenden Formen
und Scharniere. Die Schattenlagen huschen gleich Wölkchen über die Körper; es war
UND DIE DECKE DER ERSTEN STANZE,
DER PARNASS, DIE JURISPRUDENZ
Wir wissen nicht, wann Raphael nach Rom kam und was ihn zwischen dem
Abschluß seinerW^nderjahre und dem Aufschwung seiner Arbeiten in der
Stanza della Signatura beschäftigte. Aber bei einer i berschau der Zeich-
nungen wird es klar: nicht die römischen Kindrücke waren es, sondern der
Auftrag selbst, was ihn über sich hinaushob.
Noch lange schwangen die großen formalen Anregungen aus Florenz weiter in ihm
und verstärkten sich vor der Antike, vor Michelangelos Papstgrab und Fresken, und sie
verdichteten sich ihm zu Visionen groß getragener, kühn bewegter, ringender und leiden-
der Körper. Der Zeichner wird ihrer noch immer mit der Feder Herr und in fließenden,
selten abreißenden Konturen erfaßt er ihre Form und das Bewegliche der Muskeln
und Bander. Heroische Kompositionen erstehen so, im Wetteifer mit den Schlachten-
Kartons und mit dem barocken Vor und Zurück römischer Sarkophag-Reliefs. Sie über-
tretfen jene bewunderten Oxforder Schlachten aus den letzten Wanderzeiten an Fülle
der spannenden Motive und noch womöglich gesteigertem Pathos. Kaum eine davon ist
uns im ()riginal erhalten. Aber die zahlreichen Kopien aus älterer Zeit verraten ihre frühe
Wirkung.
Die Überwältigung eines Jünglings (Abb. 190/191) bringt zu der gewohnten anima-
lischen Kampfeswut ein seelisches Element und bei der Gruppe derThimoklea schürzt sich
inmitten gestellter Gruppen ein dramatischer Konflikt, würdig des großen Historienmalers
in der zweiten Stanze.
Aber noch immer sind es Vorgänge, an nackten Figuren studiert, eine Gewohnheit, die
bis in die vorbereitenden Entwürfe zur Disputa und zum Parnaß herrscht. Krst der Auf-
trag der Stanze mit der Größe dessen, was von ihm verlangt wurde, brachte auch den
Reichtum der Einfälle und damit eine ihm selbst ungeahnte Vielseitigkeit des Ausdrucks
in die Zeichnung.
In allen Techniken, Feder, Silberstift, Kreide, Rötel, bereitet er schon die Bilder der
Decke vor und, rein äußerlich angesehen, übertrilft diese Sammlung von Blättern an Form,
Ausdruck, Farbe, kühnem Andeuten und überlegenem Ausführen alle bisherigen Gruppen.
Für die immer genauer errechnete Präzision in den Gruppen der Grablegung war der
in fester Bahn die Form umgrenzende Federzug gerade das angemessene gewesen.
Aber schon die Wallungen und der erregte Atemzug der jungen Mutter mit dem stür-
mischen und trinkenden Kind und der helle Tag, der wie zum Ausgleich der inneren
Seligkeit die Figuren umhüllte, mußten diese Linien sprengen.
.letzt in Rom kommt aus der ihm neuen Helligkeit des Freskos, der Vision so vieler
überirdischer Wesen ein ungeahnt lichter Stil derZeichnung: oft runden sich die Formen,
nur an einer Seite begrenzt, mit überblendetem Kontur, Bogensegmente scheinen über
das Papier zu irren und bilden doch in instinktivem Sichfinden die entscheidenden Formen
und Scharniere. Die Schattenlagen huschen gleich Wölkchen über die Körper; es war