VINCENT VAN GOGH
Hütten
Aus: „Die Farben“
Aus den Briefen des Zurückgekehrten
Von HUGO VON HOFMANNSTHAL.
26. Mai 1901.
In den großen Straßen herumzugehen war unmöglich; irgendwo hinein-
gehen und Zeitung lesen war ebenso unmöglich; denn die redeten nur allzu-
sehr dieselbe Sprache wie die Gesichter und die Häuser. Ich bog in eine
stille Seitenstraße. Da ist in einem Haus ein sehr anständig aussehender
Laden ohne Schaufenster und neben der Eingangstür ein Plakat: Gesamt-
ausstellung, Gemälde und Handzeichnungen — den Namen lese ich, ver-
liere ihn aber gleich wieder aus dem Gedächtnis. Ich habe seit zwanzig
Jahren kein Museum und keine Kunstausstellung betreten, ich denke,
es wird mich, worauf es jetzt vor allem ankommt, von meinem unsinnigen
Gedankengang ablenken, und trete ein.
Mein Lieber, es gibt keine Zufälle, und ich sollte diese Bilder sehen,
sollte sie in dieser Stunde sehen, in dieser aufgewühlten Verfassung, in
diesem Zusammenhang. Es waren im ganzen etwa sechzig Bilder, mittel-
große und kleine. Einige wenige Porträts, sonst meist Landschaften: ganz
wenige nur, auf denen die Figuren das Wichtigere gewesen wären: meist
waren es die Bäume, Felder, Ravins, Felsen, Äcker, Dächer, Stücke von
Gärten. Über die Malweise kann ich keine Auskunft geben: du kennst
wahrscheinlich fast alles, was gemacht wird, und ich habe, wie gesagt, seit
zwanzig Jahren kein Bild gesehen. Immerhin erinnere ich mich ganz wohl,
zur letzten Zeit meiner Beziehung mit der W., damals als wir in Paris
lebten — sie hatte sehr viel Verständnis für Bilder — öfter in Ateliers und
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Hütten
Aus: „Die Farben“
Aus den Briefen des Zurückgekehrten
Von HUGO VON HOFMANNSTHAL.
26. Mai 1901.
In den großen Straßen herumzugehen war unmöglich; irgendwo hinein-
gehen und Zeitung lesen war ebenso unmöglich; denn die redeten nur allzu-
sehr dieselbe Sprache wie die Gesichter und die Häuser. Ich bog in eine
stille Seitenstraße. Da ist in einem Haus ein sehr anständig aussehender
Laden ohne Schaufenster und neben der Eingangstür ein Plakat: Gesamt-
ausstellung, Gemälde und Handzeichnungen — den Namen lese ich, ver-
liere ihn aber gleich wieder aus dem Gedächtnis. Ich habe seit zwanzig
Jahren kein Museum und keine Kunstausstellung betreten, ich denke,
es wird mich, worauf es jetzt vor allem ankommt, von meinem unsinnigen
Gedankengang ablenken, und trete ein.
Mein Lieber, es gibt keine Zufälle, und ich sollte diese Bilder sehen,
sollte sie in dieser Stunde sehen, in dieser aufgewühlten Verfassung, in
diesem Zusammenhang. Es waren im ganzen etwa sechzig Bilder, mittel-
große und kleine. Einige wenige Porträts, sonst meist Landschaften: ganz
wenige nur, auf denen die Figuren das Wichtigere gewesen wären: meist
waren es die Bäume, Felder, Ravins, Felsen, Äcker, Dächer, Stücke von
Gärten. Über die Malweise kann ich keine Auskunft geben: du kennst
wahrscheinlich fast alles, was gemacht wird, und ich habe, wie gesagt, seit
zwanzig Jahren kein Bild gesehen. Immerhin erinnere ich mich ganz wohl,
zur letzten Zeit meiner Beziehung mit der W., damals als wir in Paris
lebten — sie hatte sehr viel Verständnis für Bilder — öfter in Ateliers und
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