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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 4.1929

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Doesburg, Theo van: Film als reine Gestaltung
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https://doi.org/10.11588/diglit.13710#0293
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FILM ALS REINE GESTALTUNG

Das Problem des Films als unabhängige, schöpferische Gestaltung
hat in den letzten zehn Jahren keine großen Fortschritte gemacht. Nur
die Aufgabe hat sich mehr und mehr geklärt. Durch viele Versuche von
Menschen ganz verschiedenen Charakters hat sich das Filmproblem
als solches klar herausgestellt.

Bei jeder neuen Gattung handelt es sich anfangs hauptsächlich um
die Eroberung der Materie. Die Versuche sind technischer Natur, man
ringt um die Bereicherung neuer Ausdrucksmittel. Die Fotografie (Da-
guerreotypie) hat eine ähnliche Entwicklung hinter sich und ist schon
heute in ein Stadium eingetreten, das es erlaubt, mit den eroberten
technischen Mitteln zu spielen. Und Spiel ist Vorstufe zum Schaf-
fen. Die drei wichtigsten Etappen schöpferischer Tätigkeit — Imi-
tation — Darstellung — Gestaltung — lassen sich für jede
Kunstgattung feststellen. Gestaltung ist immer Ziel, ganz
gleich, ob es sich um Malerei, Plastik, Fotografie oder Film handelt.
Sobald die schöpferische Initiative eingreift, ändert sich die
Tendenz und das anfänglich Reproduktive setzt sich in das Pro-
duktive, Schöpferische um. Die Realität wird zur Überrealität. Diese
Tendenzverschiebung kann aber nur dann stattfinden, wenn die alten
Mittel erschöpft sind. Ich glaube annehmen zu dürfen, daß es im
Grunde gleichgültig ist, ob es sich hierbei um optische oder
akustische Empfindungen handelt. Mit der Reinigung, oder besser
Elementarisierung der Ausdrucksmittel, ist gleichzeitig das Aufnahme-
organ erneuert worden. Denn nicht nur die technischen Mittel ge-
hören zum Aufbau der Kunst, sondern auch das Ohr (Fonetik) und
das Auge (Optik). Schönberg und Strawinsky sind nicht nur die
Schöpfer einer neuen Musik, sondern auch Schöpfer einer neuen
Fonetik. Zu gleicher Zeit mit dem Futurismus und dem Kubismus
wurde eine neue Optik geschaffen. Der euklidische Ruhepunkt im
Bilde wurde zerstört. Die Retina hat sich an der alten perspektivischen
Malerei durch die Wiederholung statischer Darstellungen ermüdet. Sie
erfrischte sich an der futuristischen Dynamik. Genau dasselbe war
der Fall in der Plastik. Die frontale, statische Statue war wirkungslos
geworden, sie ließ keine Eindrücke mehr auf die Retina zu. Boccioni
zerstörte die statische Achse und schuf gleichzeitig eine neue Plastik
und eine neue Optik. Anstatt auf die alte Weise vom Ruhe- oder Mittel-
punkt aus sich von links nach rechts und von oben nach unten zu
bewegen, wird das Auge gezwungen, sozusagen kreis- oder spiralför-
mig um die Plastik herum zu kreisen. Die Retina nimmt neue Eindrücke
auf und der Geist bereichert sich um neue plastische Gebiete.

Dieser Vorgang in Plastik und Malerei ist von größter Bedeutung
für die Erneuerung der Fotografie und des Films gewesen.

Es gibt heute schon eine ganze Literatur über den Film. Die Schrift-
steller, meistens Künstler, die sich mit Filmkunst beschäftigen, gehen
von einer falschen Voraussetzung aus, wenn sie behaupten:

Von der Fläche zum Raum

Sechs Momente einer raumzeitlichen Konstruktion (mit 24 Variationen) Gestaltung

schräger Dimension. Atelier van Doesburg, Paris 1926

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