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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 6.1931

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Riezler, Walter: Werkbundkrisis?
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https://doi.org/10.11588/diglit.13708#0014

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durch die Entwicklung zum Absterben gebracht
wird, da kann es keiner Macht der Erde gelingen,
ihn wieder lebendig zu machen.

Aber freilich — der Geist oder besser Ungeist
dieser Entwicklung ist ja gerade das Verhängnis,
das nach der offen geäußerten oder nur geheim
gehegten Überzeugung der Werkbundgegner die
Kultur bedroht und zu dessen Bekämpfung der
Werkbund, wenn er seiner Sendung nicht untreu
geworden wäre, alle seine Kräfte einsetzen
müßte. In der Gestalt des Bolschewismus und in
hundert anderen Gestalten wird der Teufel an
die Wand gemalt und die Reaktion zum heiligen
Kriege gegen seine Macht aufgerufen. Überali
da, wo der Werkbund heute eine Aufgabe er-
blickt, sieht die Reaktion Untaten dieses Teufels:
in der jüngsten Baukunst, deren Schmucklosig-
keit, nackte Zweckgebundenheit und Mangel an
harmonisch gegliederter Form ebenso zu be-
kämpfen sei wie die Internationalität ihrer For-
mensprache, in der nüchternen Serienware, die
an die Stelle des handwerklichen Einzelstücks
tritt und die nur der Ausdruck eines öden Kol-
lektivgeistes sein könne, und schließlich in der
Macht, die hinter allem steht, was heute wird, in
der Technik, deren Endziel nur die Mechanisie-
rung und damit Entseelung und Entgeistigung der
ganzen Menschheit sein könne. Diese Argu-
mente, die eine Zeitlang etwas abgestanden klan-
gen und ihre Kraft verloren zu haben schienen,
werden voraussichtlich in der nächsten Zeit wie-
der sehr stark an Macht gewinnen, und es wird
sich dann erst herausstellen, wie gering an Zahl
immer noch diejenigen sind, die aus selbständi-
ger Überlegung und klarer Einsicht in die Ent-
wicklung anders denken. Es wäre ein schwerer
Fehler, würde der Werkbund die Argumente der
Reaktion gering schätzen oder aus taktischen
Gründen zu ihnen schweigen und sich auf
ein neutraleres Arbeitsgebiet zurückziehen. Er
wird sich mit aller Entschiedenheit mit die-
sen Argumenten auseinandersetzen und den
Mächten der Reaktion offenen Kampf ansagen
müssen.

Er hat dem, was die Gegner sagen, eine Er-
kenntnis und einen Glauben entgegenzusetzen:
Die Erkenntnis, daß keine Macht der Welt im-
stande ist, das Rad der Entwicklung rückwärts zu
drehen, und daß alle Wirrnis, unter der wir jetzt
leiden, alle Seltsamkeiten und drohenden Schrek-
ken nur der Ausdruck einer Weltenwende sind,
in der wir uns befinden. Und wenn auch das Ziel
dieser Umgestaltung noch nicht deutlich zu
sehen ist. so ist doch schon das Eine klar: das
neue Zeitalter wird keine Epoche des Indivi-
dualismus, des Renaissancegeistes und des

Liberalismus in Staat, Kultur und Wirtschaft sein.
Und vielleicht sind auch schon die ersten Um-
risse der neuen Formung gerade auf dem Ge-
biete der Werkbundarbeit, in Baukunst, Technik
und Gewerbe sichtbar. Wahrscheinlich über-
schätzen wir das auf diesen Gebieten schon Er-
reichte, weil wir das, was nachkommt, nicht ken-
nen. Aber immerhin ist nicht mehr zu verkennen,
daß hier eine Formenwelt von unerhörter Neuheit
entsteht, die Ausdruck einer tiefen Umwandlung
der Menschheit sein muß. Man denke nur daran,
daß nicht nur den neuen technischen Gebilden
keine Vergangenheit etwas ähnliches an die Seite
zu stellen hat, sondern daß auch die Baukunst
der letzten zehn Jahre — also der zu tiefst auf-
gewühlten Zeit nach dem Weltkrieg — eine radi-
kalere Erneuerung aller Gestaltungsgesetze be-
deutet, als wir sie aus irgendeiner Epoche der
Geschichte kennen.

Und dieser Erkenntnis von der Unabwendbar-
keit des Kommenden darf der Werkbund mit um
so besserem Gewissen foloen, weil er von dem
Glauben beseelt ist, daß dieses Kommende kein
Unheil für die Menschheit bedeuten wird: daß
vor allem nicht etwa Geist und Seele dadurch
vernichtet werden, sondern daß die ganze Um-
wandlung überhaupt nur der Ausdruck einer
neuen Geistigkeit, einer neuen seelischen Hal-
tung ist. Damit stehen wir freilich im Wider-
spruch zu so manchen radikalen Doktrinen der
jüngsten Zeit, die mit einem gewissen Triumph
die Vernichtung aller geistigen und seelischen
Werte zugunsten einer rein physiologisch-biolo-
gischen Existenz der Menschheit proklamieren.
Derartige Doktrinen, spätgeborene Geschöpfe
des Materialismus, braucht man nicht zu ernst
zu nehmen, es sei denn, man sieht in ihnen den
tröstlichen Beweis, daß das im Tiefsten Bewe-
gende der Gegenwart, so wie es auch in frühe-
ren Epochen der Erneuerung war, gerade den
Aktivsten oft gar nicht zum Bewußtsein kommt.
Es ist nur ein gesunder Zustand, wenn diejeni-
gen, die um die Gestaltung des Neuen schöpfe-
risch bemüht sind, nur den — technischen oder
praktischen, sozialen oder hygienischen —
Zwecken zu dienen, nur diese auszudrücken
glauben. Denn damit wird die Gefahr eines for-
malistischen Mißbrauchs der neuen Formen ge-
bannt. Aber das Wunder ist eben, daß aus dem
„Zweckentsprechenden" ein ,,Formvolles" wird
— was keineswegs notwendig ist —, d. h. eine
lebendige Gestalt, die als solche auch abgesehen
von der Zweckhaftigkeit aufgenommen wird. Daß
sich dieses Wunder begibt, ist ein Beweis dafür,
daß es neben der Bindung an die Zwecke noch
einen Formtrieb gibt, — und dieser Formtrieb

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