Metadaten

Galerie Günther Franke (München)
Franz Marc - Aufzeichnungen und Aphorismen — München: Galerien Günther Franke, 1946

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.68334#0009
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Frage unsrer Tage, Es ist die Frage, die dieses Buch beherrschen wird. Was in diesem Buch
steht hat nur Beziehung zu dieser Frage und dient keiner anderen. An ihr soll seine Gestalt
und sein Wert gemessen werden.
Aus den 100 Aphorismen geschrieben im Felde 1915
I
Jedes Ding hat seihen Mantel und Kern, Schein und Wesen, Maske und Wahrheit. Daß
wir nur den Mantel umtasten, ohne zum Kern zu gelangen, daß wir im Schein leben statt das
Wesen der Dinge zu sehen, daß uns die Maske der Dinge so blendet, daß wir die Wahrheit
nicht finden können,-was besagt das gegen die innere Bestimmtheit der Dinge?
II
Unbeirrt von Szenerie und politischer Regie dieses tollen Kriegsschauspieles müssen unsre
Gedanken zu seinem letzten tiefsten Sinn dringen.
Zweifelt man, daß es einen solchen gibt?
Die letzte Tiefe, die wir sehen, ist freilich immer nur „die letzte, die wir sehen“, aber
immer doch tiefer, als die erste, die nächstbeste, die politische.
Man glaubt vielleicht in meinem Mißtrauen gegen die politische „staatserhaltende“ Logik
dieses Krieges eine sophistische Verschiebung des großen Tatsachenbestandes sehen zu dürfen.
Ich hoffe doch, einige Deutsche zum Ernst meiner Gedanken zu bekehren. Nichts freilich
fürchtet der Mensch so sehr, als in der strahlenden Beleuchtung von Gedanken zu stehen. Er
liebt die Komödie und den Schein und den dicken, warmen Atem des Alltags. Aber immer
gab es doch auch Männer, die anders dachten und nach dem Grund der Dinge tasteten.
24
Wie der Schein der Dinge uns trügt, so trügen auch die Worte. Wer aus Worten Erkennt-
nis schöpfen will, darf nicht auf ihnen sitzen, sondern zwischen ihnen, hinter ihnen nach der
Wahrheit tasten; denn auch Worte sind Vordergrundsbilder und stehen im Alltags scheine.
Auch hierin gilt unser Grundgedanke: die hundert Stufen der Erkenntnis, des Durch-
schauens, Eindringens in den Sinn der Dinge. Die Wissenschaft hob uns auf die zweite Stufe
der Erkenntnis und alles wird ihr folgen. Die Kunst wird das zweite Gesicht der Dinge, die
Dichtung den zweiten Klang der Worte hören und das Denken den zweiten Sinn der Gescheh-
nisse erkennen.
25
Wir werden im 20. Jahrhundert zwischen fremden Gesichtern, neuen Bildern und un-
erhörten Klängen leben.
Viele, die die innere Glut nicht haben, werden frieren und nichts fühlen als eine Kühle
und in die Ruinen ihrer Erinnerungen flüchten. Wehe den Demagogen, die sie daraus hervor-
zerren wollen. Alles hat seine Zeit, und die Welt hat Zeit.
26
Nietzsche hat seine gewaltige Mine gelegt, den Gedanken vom Willen zur Macht. Sie
zündete furchtbar im großen Kriege. Mit seinem Ende wird auch die Spannung jenes Gedan-
kens ihr Ende haben. Jeder Gedanke hat nur seine bestimmte Weite und Spannkraft; aber
wie jede Kraft verwandelt er sich nach dem Gesetz der Energie in eine neue. Aus dem Willen
zur Macht wird der Wille zur Form entspringen.
 
Annotationen