Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Gilles, Werner; Galerie Günther Franke (München)
Werner Gilles: ausgegeben anläßlich einer Ausstellung im November 1947 in der Galerie Guenther Franke, München — München: Galerie Günther Franke, 1947

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.68193#0008
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Wenn wir die Entwicklung des neuzeitlichen Lyrismus seit Bau-
delaire verfolgen, so zeichnen sich vor unseren Augen hinter den Sujets
der Gefühle immer deutlicher Formen und Gestalten ab, die uns, gleich
Symbolen, in uraltbekannte Bereiche der menschlichen Seele leiten. In
der primitiven Malerei stellten die Symbole psychische Urelemente und
kosmische Beziehung des Menschen anthropomorph dar. Der Mensch
büßte schließlich im Laufe der Entwicklung das Wissen darum größten-
teils ein. Die Symbole verloren mit dem Inhalt auch die Kraft.
In der modernen Malerei nun begegnen wir einer fast radikalen
Zertrümmerung traditioneller Restbestände an Symbolen. Aber es ge-
schah dabei ein Wunder: die Trümmer selbst schon ordneten sich im
Kraftfelde einer neuartigen Sensibilität zu Formen, Gegenständen, Räumen
und Gestalten, hinter denen unbezähmbare Neugier und Sehnsucht das
Verlorene als ein Neues aufspürt. Denn nur in der Zukunft, nicht im
Vergangenen liegt das Ziel ursprünglicher Unschuld, das alle Wagnisse
dem Vertrauenden rechtfertigt. Das Werk, das Picasso, Klee, Chagall
und andere begonnen haben, wird nicht unvollendet bleiben; dafür ist
es schon zu weit vorgeschritten.
Wenn nun die leidgeprüften Völker, nach Irrtum und Krankheit,
im Vertrauen auf die priesterliche Kraft der Kunst, wieder nach den

wahren Quellen der Erneuerung suchen werden, dann werden ihre Künst-
ler ihnen zeigen dürfen, daß nicht nur zurückgestoßene Engel sich in
Dämonen verwandeln können, sondern auch Dämonen wieder in Engel.
Denn das Reich Gottes ist gleich einem Samenkorn.
Wenige haben in Deutschland so wie Gilles den Kampf mit den
Dämonen immer wieder aufgenommen und bestanden, sicher geleitet
von ehrfürchtiger Liebe zu den Dingen, an denen unser Leben sich ab-
spielt. Was mehr denn kann ein Menschenleben umfassen, als Qual, Angst
und Ausweglosigkeit des Opheliaschicksales, stummen Vorwurf, tiefe
Trauer und Mitleid im Motiv des Toten Vogels, schwermutsvollen Frie-
den mediterraner Architektur, bis zur goldenen Sonnenhelle strahlender
Jünglingsgestalten : Ikarus! Phaeton! Gilles Einwirkung auf unsere Gene-
ration und auf die ganz Jungen liegt in dieser seiner esotherischen Berufung
begründet. Wohl mag in jeder Zeit die revolutionäre Aufgabe der Kunst
in einer leidenschaftlichen Rehabilitierung unterdrückter Teile der Wirk-
lichkeit bestehen. Darüber hinaus aber gibt es Wesen und Dinge, die in
unzerstörbarer Unschuld und Jugend den armen Menschen immer zu-
gänglich sein können.
Diese Kräfte sind es, die Gilles Werk bleibende Wirkung verleihen.
Werner Heidt.

Werner Gilles, geb. 29. 8. 1894 ztl Rheidt, Rheinland. 1914 Akademie Kassel, 1918 Akademie Weimar, 1918—1924 Bauhaus Weimar bei Walter Klemm und
Lionel Feininger, zwei Jahre Studien in Frankreich, 10 Jahre in Italien, 1930 Rompreis. 1937 in der Ausstellung ,,Entartete Kunst“.
Lebt in Schwarzenbach a. d. Saale.
 
Annotationen