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Stehlin, Über die alten Baurisse des Freiburger Münsterturms



die gemauerten Wände warten1; der zu Freiburg
konnte, mit Brettern verschalt und mit Schindeln ge-
deckt möglicherweise mehrere Generationen hin-
durch dastehen, ohne dass der Turm ausgebaut war.
Die zwei von Adler ferner herangezogenen apokryphen
Überlieferungen, dass der Turm 20 Jahre nach dem
Dominikanerchor vollendet und dass 28 Jahre daran
gebaut worden sei, sind ihrem ganzen Charakter nach
vollkommen belanglos.

Trotzdem die Erwin-
Legende wohl kaum von
sehr vielen Leuten ernst ge-
nommen worden ist und
keine urkundliche Nachricht
für eineausnahmsweise kurze
Entstehungszeit des Baues
spricht, hat die Ansicht, dass
der Turm nach einem ein-
heitlichen Plane erbaut sei,
seither die Vorherrschaft be-
hauptet. Sie wird in der

neueren Münsterliteratur
wiederholt mit Eifer gegen
etwaige Anzweifelungen ver-
teidigt, und es hat bisweilen
den Anschein, als sei dabei
die Empfindung mit im Spiele,
dass es eine Herabsetzung
des Turmes bedeuten würde,
wenn man ihn zwei ver-
schiedenen Urhebern zu-
schreiben wollte. Die kriti-
sche Forschung darf sich
von solchen Gefühlsmotiven
natürlich nicht beeinflussen
lassen. Im übrigen dünkt
uns, es bleibe noch Ruhmes
genug, auch wenn der Voll-
ender des Turmes einen be-
reits vorhandenen Unterbau
benützt haben sollte.

Unseresteils glauben wir in der Tat, dass das
letztere der Fall sei. Die Ansicht hat bis jetzt nur
wenige Vertreter, und von diesen wird sie, soviel
wir sehen, mehr nur angedeutet als begründet2. Wir
wollen sie in Kürze zu entwickeln versuchen.

Die übliche und aus gutem Grunde zur Norm
gewordene Zusammensetzung der gotischen Türme

1 Man vergleiche z. B. die Angabe vom Jahre 1527 über
den Westturm der Stiftskirche zu Stuttgart bei K. Heideloff und
Fr. Müller, Die Kunst des Mittelalters in Schwaben. Stuttg.
1855 S. 17 Sp. 1.

2 H. von Geymiiller, Deutsche Bauzeitung 1876 S. 429.
Marmon, U. L. Frauen Münster zu Freiburg im Breisgau 1878
S. 172.

Freiburger Münslerblätter IV, 1.

Fit

aus einem viereckigen Unterteil und einem acht-
eckigen Oberteil gibt dem Baumeister das Problem
auf, die Flächen des Vierecks, welche neben dem
Achteck vortreten, durch Eckbauten zu bekrönen;
um diese Endigungen, wie es die gute Architektur
verlangt, nicht als willkürlich aufgepfropfte Füllformen,
sondern als notwendige Bauglieder erscheinen zu
lassen, dafür gibt es, soviel uns bekannt, bis jetzt

nur zwei Rezepte.

In den einen Fällen
werden zur Lösung der Auf-
gabe die beiden Strebepfeiler
jeder Turmecke herange-
zogen ; sie werden im Grund-
risse so gestellt, dass ihre
Achsen sich im Mittelpunkt
des beabsichtigten Ecktürm-
chens kreuzen, und ihr Auf-
riss wird so geführt, dass
das Türmchen ihre gemein-
same Bekrönung bildet und
den Eindruck hervorruft, als
sei es bloß ihretwegen da.
Es ist dies einer der be-
währten architektonischen
Kunstgriffe, um aus einer Not
eine Tugend zu machen. Die
Strebepfeiler des Freiburger
Turmes scheinen geradezu
auf eine solche Lösung an-
gelegt zu sein; sie laufen so
gegen den Turm an, dass
man erwartet, sie würden
sich demnächst in einer
Spitze von kreuzförmigem
oder quadratischem Grund-
riss vereinigen; aber die Ent-
wicklung nimmt eine andere
Wendung.

i- Die zweite, vielleicht

vollkommenere Methode be-
steht darin, das Achteck und die Nebentürmchen
nicht plötzlich und mit einem Schlage, sondern sachte
und allmählich aus dem Viereck herauswachsen zu
lassen. Ihr gemeinsamer Horizontalschnitt muss zu-
nächst in einem Übergangsgeschoss eine Figur be-
schreiben, die sich so wenig als möglich vom Um-
risse des Vierecks entfernt und aus der sich erst in
den folgenden Geschossen differenziertere Bildungen
entwickeln. Nach diesem System ist der Freiburger
Turm komponiert. Sein Übergangsgrundriss ist wohl
der genialste, der bis heute erfunden wurde. Es war
ein ebenso kühner als einfacher Griff, die Eck-
türmchen nach dem gleichseitigen Dreieck zu ge-

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