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mehr — nach 1510 — wurde er zum Eingehen auf Bedürfnisse und Wünsche der
Käufer gelockt. Nun wurde von ihm etwas erwartet, und er suchte, der Erwartung
zu entsprechen. Wenn wir in den folgenden Jahren ein Nachlassen der Gestaltungs-
lust wahrnehmen, wie etwa in der Apostelfolge (B. 86—99), so erscheint um 1510
noch jeder Stich als eine Errungenschaft nach Inhalt und Form, und von Fall zu
Fall schlägt die Bestrebung eine andere Richtung ein.
Der holländische Raumdurst hatte sich zuerst an Tonstufung, Luftperspektive
und Verjüngung der Figuren gesättigt. Nun, im Ecce Homo, entscheidet die linien-
perspektivische Konstruktion. Der unermüdlich Lernbegierige bemächtigt sich des
mathematischen Mittels, um Raumillusion zu erzaubern, und wendet sich plötz-
lich, sogleich mit vollem Erfolg, der architektonisch umschlossenen Bühne zu.
Überraschend bewährt sich das Vermögen, feste glaubhafte Gebäude zu errichten.
Rampe, Treppe, Fassade des Stadthauses, parallel zur Bildebene, begrenzen einen
geräumigen Schauplatz für die dichtgedrängte, gestikulierend das Urteil fordernde
Menge. Christus, Pilatus und die Schergen klein, in der Ferne. Kinder fehlen nicht,
wie wenn des Heilands Wort bestätigt werden sollte: Sie wissen ja nicht, was sie
tun. Nicht wie sonst wohl, durch einige Vertreter der Volksstimmung, sondern
durch die in ansehnlicher Menge gegenwärtige Gemeinde wird die Pöbelherrschaft
veranschaulicht. Wie bereits in dem Blatte des Paulus-Sturzes, Figuren in großer
Zahl, in kleinem Maßstab, viele hier uns den Rücken zukehrend, im klar ent-
wickelten Raum agierend.
Die Regieleistung wurde bewundert. Diese demokratische Fassung der Ecce-
Homo-Szene blieb vorbildlich für den Braunschweiger Monogrammisten, für Pieter
Aertsen und noch für — Rembrandt.
Mit anderen Vorzügen wie dieses Schaustück gewinnt die gleichfalls 1510 ent-
standene „Milchmagd" unsere Gunst. Dieser einzigartige Stich erscheint als ein 17
bemerkenswertes Glied im historischen Zusammenhang, als eine Inkunabel der
Genre-Darstellung, ohne die Würze der Kuriosität, schlichte Werktätigkeit. Kühe
in Seitenansicht, deren Rücken gebreitet und wie die architektonischen Haupt-
linien im Ecce Homo, rechts die Magd, links der Knecht. Die Bildwürdigkeit aus-
schließlich und schlechthin aus der alltäglichen Wirklichkeit zu gewinnen, war
um 1510 eine Leistung, die wir, denen die holländische Malerei des 17. Jahrhun-
derts vertraut ist, leicht unterschätzen. Triebkräfte aus der Tiefe, Erdgebunden-
heit und Freude an der nahen Umwelt, am greifbaren Besitz, haben vorzeitig und
in diesem Kupferstiche das Schaffen des Leideners bestimmt. Nie wieder ist ihm
eine von Gedanklichkeit, Komik, Moral oder Spottlust so freie Genreszene zu ver-
wirklichen gelungen.
Den Fahnenträger vergleichen wir mit Dürers Flaggenschwinger (B. 87),
der offenbar des Leideners Vorbild war. Die klare Plastik der sich vom
hellen Grund abhebenden Gestalt, den festen Stand im Kontraposte hat
Lucas nicht erreicht. Er denkt an die Wetterumstände, die das Fahnentuch mehr
als die Muskelkraft des Kriegers in Bewegung setzen. Der Himmel ist wolkig
bezogen, während Dürer den weißen Papiergrund bewahrt. Immerhin trachtet

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