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DIE PERSÖNLICHKEIT UND IHR WEG

Ein weiter Weg — in 25 Jahren —, radikale Wandlung, folgenlose Vorstöße.
Konstant: rastloses, ehrgeiziges Streben.
Die Weglinie im Formwesen kann als Spirale gezeichnet werden, da sich der
Meister, bei stetiger Fortbewegung vom Ausgangspunkt, auf anderen Stufen —
ich sage nicht: auf höheren — dem Ursprunge wieder nähert. Neigungen, die unter-
drückt worden sind, brechen aufs Neue hervor. So war zu beobachten, wie Lucas
in seiner Frühzeit die Glieder des Leibes sich überschneiden, queren und verdecken
ließ und Pathos gewann aus perspektivischer Verkürzung der Köpfe. Danach,
bald, richtete er die Körper und die Köpfe steil auf, mit der Tendenz auf stattliche
und würdige Haltung. Um 1525 kehrt er mit gesteigerter Formenkenntnis zu der
Jugendneigung zurück und übt virtuos, was er ehemals gefühlsmäßig getrieben hat.
Das Bedürfnis, Gestalten eng aneinander zu schließen, sie etwa in eine Pyramide
zu sperren, regt sich wieder. Das Motiv der senkrecht ragenden Baumstämme,
die dem Bildbaue Festigkeit verleihen, zugleich als Repoussoir wirken für die
lichte Ferne, wird, wie in der Frühzeit, so in der Spätzeit mit einiger Regelmäßig-
keit verwendet.
Die Geschöpfe stehen, schreiten oder sitzen, sitzen aber lieber als daß sie stehen.
Wahl und Bevorzugung dieser oder jener körperlichen Lage verraten etwas von
dem Temperamente, von der Lebenskraft des Bildners. Wenn Dürers „Apostel"
Standbildern gleichen, in des Leideners Vorstellung sitzen Petrus und Paulus,
sowohl in dem Altargemälde, dem in Leiden, wie in dem Kupferstiche (B. 106),
wo sie in einen kerkerhaft niedrigen Bildraum gesperrt erscheinen. Dürers Vorliebe
für standfest aufgerichtete Gestalten ist Ausfluß männlicher Tatkraft. Da er nach
der meßbaren Schönheit des Menschenleibes trachtete, beeinträchtigten überdies
Verkürzungen und Überschneidungen der Glieder sein Ideal. Eine sitzende Figur
läßt sich nicht messen, nicht konstruieren.
Lucas hat sich bemüht, von Dürer zu lernen, wie er höchst lernbegierig war,
wenn auch nicht stets zu seinem Heile. Wesentliches in Dürers Schöpfung blieb
ihm unzugänglich als seiner Natur fremd und unfaßbar. In unbelehrter Jugend
hat er Eigenes stammelnd ausgesprochen, später lernte er laut und deutlich spre-
chen, aber in einem der eigenen Gefühlsweise ungemäßen Idiome.
In des Leideners Phantasie überwiegt die Vorstellung von dem, was immer
und überall, der unveränderlichen menschlichen Natur nach, geschieht. Das Genre
regt sich zunächst im Negativen, in Blindheit für das Heroische, religiös Erhabene,
kirchlich Geheiligte. Indem Lucas, statt in das Zentrum zu zielen, Begleiterschei-
nungen ins Auge fast, stößt er auf Zustände und Vorkommnisse des Alltags. Bei

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