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Frommel, Christoph Luitpold
Der Römische Palastbau der Hochrenaissance (Band 1): Text — Tübingen: Wasmuth, 1973

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https://doi.org/10.11588/diglit.59325#0070
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des eigentlichen Palastes, sondern befindet sich zwischen
der Straße und dem Eingangsportal. Als Hauptbeispiele
nennt Baldi die Vorhöfe von Alt-St. Paul, AJt-St. Peter und
S. Celso in Mailand.
Das „atrium“ setzt Baldi wie vor ihm Barbaro mit dem
neueren Andito gleich: „Arbitramur nos, vetera atria,
nostrarum aedium parti illi respondere, quam vulgo Andi-
tum dicimus, Andatam, Caminatamve, quae quidem, prima,
post ingressum ostii, introgredientibus occurrit, eaque, non
quidem subdivalis, sed tecta, et concamerata“ und beruft
sich dabei auf den Passus Vitruvs: „Atria in urbe proxima
ianuis solent esse“. Baldi bemerkt allerdings, daß einige das
„atrium“ mit dem „cavaedium“, andere mit dem „vestibu-
lum“ identifizierten und räumt ein: „Sane inter atrium et
vestibulum grandis affinitas intercedit.“11. In der Tat wird
der Begriff „atrium“ im Mittelalter und noch bei F. di Gior-
gio und P. Ligorio gleichbedeutend mit Hof gebraucht12
(T.180b).
Diese Unsicherheit in der Interpretation der Begriffe
„vestibulum“ und „atrium“ ist auch für die Entwürfe der
übrigen Renaissancearchitekten bezeichnend. Sowohl der
in die Fassade eingespannte Eingangsportikus der Villa in
Poggio a Cajano als auch die der Fassade vorgelagerte
Säulenhalle in Giuliano da Sangallos Modell für den König
von Neapel, ja vielleicht sogar der Ehrenhof zwischen
Piazza Navona und Pal. Madama in seinem Umbauentwurf
für den Pal. Medici von 1513 dürfen als Rekonstruktionen
des antiken „vestibulum“ gelten13 (T. 177b). Der Ehrenhof
in dem Entwurf für den Pal. Medici kommt den von Baldi
erwähnten Atrien vor den alten Basiliken am nächsten; der
in Poggio a Cajano erneuerte Typus den Vorhallen des
Baptisteriums von S. Giovanni in Laterano oder S. Co-
stanza. Dieser Typus sollte in der Villenarchitektur weiter-
leben (Farnesina, Sangallos Entwürfe UA 828,722), doch
nur in wenigen Beispielen der innerstädtischen Palast-
architektur wie dem Pal. Massimo alle Colonne oder San-
gallos Entwürfen UA709,745,999,1235 (T.189a). Den
Typus des dem Palast vorgelagerten „vestibulum“ über-
nimmt Antonio da Sangallo d.J. in seinem Entwurf
UA1188, wobei es sich allerdings um die Rekonstruktion
eines antiken Hauses und nicht um einen Palastentwurf zu
handeln scheint.
Noch größere Schwierigkeiten bot die Rekonstruktion
des antiken „atrium“. Giuliano da Sangallo hatte in seinem
Entwurf für Ferdinand von Neapel das „atrium“ als drei-
11 Vitruv ed. Barbaro 1567, 288; Baldus 1612, 22f.; Alberti, De re
aedificatoria, V, 17 verstand das „atrium“ noch als ein hofähnliches
Gebilde (s. Biermann 1967, 255f., 1970, 178ff.).
12 Ehrle-Egger 1935, 62.
13 Biermann, loc. cit.

schiffige Anlage interpretiert14. Fra Giocondo hatte in sei-
nem Vitruvkommentar diese Interpretation aufgegriffen,
Antonio da Sangallo d. I. sie in seinem Entwurf UA1259
für einen Medicipalast an Piazza Navona um 1516 in den
Stadtpalast übernommen (177d, 189a). In der Eingangs-
halle des Pal.Farnese fand sie dann um 1516/17 ihre erste
bauliche Realisierung15 (T.40b). Wenn Raffael in seinem
ersten Entwurf UA273 für die Villa Madama ein drei-
schiffiges „vestibulum“ vorsieht, so liegt wohl keine Ver-
wechslung mit dem dreischiffigen „atrium“, sondern viel-
mehr eine Erweiterung der in die Fassade eingespannten
Eingangshalle vor, wie sie A.da Sangallo d.J. in seinem
Entwurf UA999 für einen Königspalast ebenfalls beab-
sichtigt16. Während Sangallo in UA999 dann allerdings ein
dreischiffiges „atrium“ folgen läßt, begnügt sich Raffael mit
einem „atrium“ in Gestalt eines „andito“ - so wie es Baldi
charakterisierte. Auch Sangallo bezeichnet den herkömm-
lichen Andito gelegentlich als „atrio“ (UA 765 für Pal. Pucci
in Florenz). Peruzzi hingegen folgt A. Fulvio und nennt den
Andito in seinen Projekten UA456,596 „vestibolo“; das
„peristilium“ läßt er unmittelbar anschließen17 (T. 183f.).
Sangallo ist in seinen späteren Entwürfen vor allem an der
Trias „vestibulum“ - „atrium“ - „cavaedium“ interessiert,
gleichgültig, ob das „vestibulum“ und das „atrium“ nun
ein- oder mehrschiffig gestaltet, ob sie mit Säulen ausge-
stattet sind oder ob es sich um schmucklose rechteckige
Räume handelt (vgl. UA969,1224,745) (T.187e,188a).
Hatte der Versuch, Vitruvs dunkle Passagen zu neuem
Leben zu erwecken, bis hin zum Pal. Massimo zu den reiz-
vollsten Ideen und Lösungen geführt, so scheint es dem
späten Sangallo nur noch um eine orthodoxe Übung ohne
architektonische Einfälle zu gehen. Dennoch hielt er bis
zum Schluß am dreischiffigen, von Säulenreihen getrennten
„atrium“ seines Onkels Giuliano fest. Das bezeugen nicht
nur die Rekonstruktionsversuche seines Bruders Giovan-
battista im Vitruv der Bibi. Corsiniana, sondern auch eigene
14 loc. cit.
15 Vgl. UA 1461 (T.188e); P.G. Hamberg 1958 hat überzeugend
dargelegt, daß die Eingangshalle des Pal. Farnese aus einem Miß-
verständnis des vitruvianischen „atrium“ zu erklären ist; vgl.
T.188e,f.
16 Giovannoni 1959, fig. 30f.
17 Wie schwer es den Architekten fiel, eine Vorstellung von Vitruvs
Angaben zu gewinnen, mag folgendes Billet A. da Sangallos d.J.
an Peruzzi erhellen (UA 1213): „Baldassare L VI Ca IIII (= 3)
vole (Vitruvio) chello impluvio del chortile e non dello atrio non
sia ne mancho duna quarta parte ne piu ehe una tertia parte dello
largeza dello atrio la longeza im proportione collo atrio L VI Ca
IIII (= 3) Peristilio e tanto quanto dire colunnato perche dicie ehe
quanto sara inter(?)verso lo peristilio la tertia parte di ditta
longeza sia introrsus cioe lo colonato sia indentro dischosto dalla
parete vostro antonio da sangallo.“

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