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Frommel, Christoph Luitpold
Der Römische Palastbau der Hochrenaissance (Band 1): Text — Tübingen: Wasmuth, 1973

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https://doi.org/10.11588/diglit.59325#0156
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VI. DIE HÖFE

1. CANCELLERIA
Auch die Betrachtung der Höfe hat vom Hof der Cancel-
leria auszugehen, Roms bedeutendstem und einflußreich-
stem Privatpalast vor dem Pal.Farnese (T. 161b, 162a,b,
163 a, b). Mit fünf mal acht Arkaden, einer lichten Weite von
etwa 20,14 x 32,81 m (Letarouilly) und zwei Loggien in
drei Geschossen wird er weder von den Höfen in Florenz
und Urbino noch vom Hof des Pal. Farnese erreicht. Diesen
Ausmaßen entspricht eine grandiose Gesinnung. In den
beiden Loggiengeschossen wird die Mauer auf ein Mini-
mum beschränkt: Schlanke Säulen, feingliedrige Archi-
volten und ein leichtes Gebälk mit abgekürztem Architrav
schließen sich zu einem luftigen Gerüst zusammen, dessen
weite hohe Öffnungen den Raum tief in sich aufnehmen.
Nur die Ecken erhalten durch L-förmige Pfeiler eine stär-
kere Betonung. In ihnen kommt die schreitende Bewegung
der Arkaden zum Stillstand. Sie bilden die Nahtstelle zwi-
schen Längs- und Schmalwänden. Nicht umsonst wird der
Pfeilerkern mit seinen beiden Vorlagen von drei breiten
Marmorbändern umklammert. Nicht nur diese Pfeilerform,
sondern auch der Rhythmus der vier Wände gibt zu erken-
nen, daß sich der Hof aus vier Schauseiten zusammensetzt.
Die acht Arkaden der beiden Längswände führen den Blick
Schritt um Schritt in die Tiefe, während die fünf Arkaden
der Schmalseiten hierarchisch zur Mitte hin anwachsen:
Die Mittelarkade der Eingangswand ist etwa 0,31 m breiter
als ihre Nachbararkaden, um 0,33 m breiter als die äußeren
Arkaden. An der gegenüberliegenden Rückwand mißt die
Mittelarkade nur 0,04 m mehr als die Nachbararkaden und
nur 0,05 m mehr als die Außenarkaden. Diese leichten Ver-
schiebungen verleihen der Tiefenachse beim Eintreten
einen unmerklichen Nachdruck. Sie machen die breiteren
Mittelarkaden der beiden Schmalwände zu einem Ruhe-
punkt für das Auge, wie ihn die Längswände nicht gewäh-
ren. Gegenüber den wechselnden Jochbreiten der Schmal-
wände sollen die genau 1:2 proportionierten Arkaden der
Längswände wohl das Grundverhältnis repräsentieren.
Sie sind etwas breiter und vollziehen damit eine etwas
langsamere Bewegung als die Arkaden der Schmalwände,
ein „ritardando“, das der Macht der Tiefenachse leisen
Widerstand entgegensetzt.
Würden die Säulen des Erdgeschosses kaum weitere,
raumoffenere Arkaden erlauben, so sind die Arkaden des
Piano Nobile untersetzter proportioniert. Für die gleiche
Jochzahl und die gleiche Geschoßhöhe wie unten standen

hier möglicherweise a priori zierlichere Säulen zur Ver-
fügung1. Sie wurden denn auch auf Piedestale gehoben, die
eine durchlaufende Brüstungsmauer miteinander ver-
bindet. Nur die reicheren Basen und Kapitelle sowie das
dreiteilige Gebälk bringen zum Ausdruck, daß sich hier das
Piano Nobile befindet.
Das dritte Geschoß erreicht eine wesentlich geringere
Höhe, ist mit korinthisierenden Pilastern ohne Arkaden-
bögen, zierlichen Ädikulen und rundbogigen Mezzanin-
fenstern ausgestattet. Die Pilasterpiedestale schließen sich
mit den Sohlbänken der Fensterädikulen zu einer umlaufen-
den Sockelzone in Travertin zusammen. Die Mezzanin-
fenster schweben unmittelbar unter dem Architrav des drei-
teiligen Gebälkes.
Die drei Hofgeschosse wachsen also von den hohen Ar-
kaden des Erdgeschosses zu den ruhenderen des Piano
Nobile und von diesen zu den noch untersetzteren Jochen
des Obergeschosses auf, von der offenen zur geschlossenen
Wand, von der monumentalen zur zierlichen Form. Die
aufstrebenden Verhältnisse der Interkolumnien werden
von Geschoß zu Geschoß gedämpft, die vertikale Konti-
nuität der Ordnungen von Geschoß zu Geschoß stärker her-
vorgehoben. Dieses Wechselspiel horizontaler und verti-
kaler Komponenten erreicht letztlich den Zustand harmoni-
scher Balance.
Das Übergewicht der Zwischenräume über die Körper
in den beiden Untergeschossen, des Pilaster]oches über die
zierliche Ädikula im Obergeschoß, die zaghaften Gesimse,
schließlich die schmuckhafte Auffassung des Details ver-
raten noch ganz die Gesinnung des ausgehenden Quattro-
cento. Vom Geist des römischen Bramante ist wenig zu
spüren. Sucht man nach Vorbildern, so weisen die Eck-
pfeiler, die Zwickeltondi, das Pilastergeschoß und das kost-
bare Detail zwar auf den Pal. Ducale zu Urbino: die monu-
mentale Weite der Arkaden, der strengere „disegno“ und
die einheitlichere Ecklösung stehen jedoch toskanischen
Beispielen wie den Höfen des Pal.Medici-Riccardi oder
des etwa gleichzeitigen Pal. Strozzi näher. Schließlich wird
in Einzelheiten wie den jonischen Basen und den Kapitellen
des Piano Nobile, dem Konsolengebälk des Obergeschosses
oder dem getrennten Ansatz der Archivolten der unmittel-
bare Einfluß der Antike spürbar.
1 R. Krautheimer, Corpus Basilicarum Christianarum Romae, Cittä
del Vaticano 193911., II, 147 ff.

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