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Füssli, Johann Rudolf; Füssli, Johann Heinrich [Editor]; Füssli, Johann Rudolf [Contr.]
Allgemeines Künstlerlexikon oder Kurze Nachricht von dem Leben und den Werken der Mahler, Bildhauer, Baumeister, Kupferstecher, Kunstgießer, Stahlschneider ... (2,7, Anhang): welcher das Leben Raphael Sanzio's, und die Litteratur von dessen Werken in sich faßt — Zürich: Orell & Füßli, 1814

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https://doi.org/10.11588/diglit.59570#0040
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Z2
die Stanzengemälds im Vatikan zu geben vermö-
gend seyen. »Indessen" (setzt er hinzu) »konnte
man zweifeln, ob Raphael wirklich zu allen die
gemalten Cartone verfertigt habe, da man bey kei-
nem gleichzeitigen Schriftsteller 16Z) die Anzahl
dieser letzten« ausgezeichnet findet. Wir nehmen
sie indessen hier für Sanzio's Werke, da keines
derselben den Geist dieses Künstlers ganz verläug-
net. Zu vielen mag er bloß die erste flüchtig ent-
worfene Idee gegeben haben, die hernach von sei-
nen Schälern im Großen ausgefährt, und durch
die ungleiche Geschicklichkeit der Teppichwirker mehr
oder weniger entstellt worden ist". Hierauf reihet
sie Fernow nach rhrcm Kunstwerthe, wie folgt:
Paulus auf dem Areopag; Anamas Tod; die Blen-
dung des Elymas; der Kindermord; Petrus erhalt
die Schlüssel 164); die Anbetung der Könige; die
Heilung des Lahmen 165) ; der Fijchzug 166);
Sauls Bekehrung; die Geburt (Anbetung der
Hirten); Reinigung Maria (Darbringung im Tem-
pel); Steinigung Stephani; das Mahl zu Emaus;
Ausgiessung des Geistes; die Himmelfahrt; Chri-
stus als Gartner; Christus im Limbus 167). Als-
dann folgt mancherlei) Treffliches über den in den
vorzüglichsten dieser neunzehn Bilder herrschenden
Charaktere. »Raphael" (heißt es da) »verfer-
tigte die Cartone zu denselben innerhalb der drei-
letzten Jahre seines Lebens; also in einer Periode,
wo er auf dem Gipfel seiner Künstlergröße stand,
seinen Geschmack bereits zu der Reinheit des Styls,
so wie seine Darstellungskraft zu der Freyheit und
Sicherheit ausgebildet hatte, die an den Werken aus
diesem Zeitraum, namentlich auch, neben den Tapeten,
in den Loggien des Vatikan so sichtbar sind. Unstrei-
tig behaupten die Gemälde in den Stanzen nicht
etwa bloß durch ihre ausgedehnte Größe (die allein
ein Kunstwerk weder gut noch schlecht macht), son-
dern auch durch reichere Compvsition, welche Ra-
phaels unerschöpfliche Jdeensülle und dichterischen
Kunstgeist im hellsten Lichte zeigen — durch eine
Menge charaktervoller Köpfe, und durch den gro-
ßen: Fleiß einer mit Liebe beseelten Vollendung,
mehrere wesentliche Vorzüge vor jenen. Aber hier
ist weder von dem Reichthume des Erfindungsgeisies,
noch von der charakteristischen Wahrheit des Aus-
drucks , noch von den technischen Verdiensten der
Ansführuna, sondern bloß von Vergrößern Rein-
heit des Stpls die Rede, worin, wie wir aus
guten Gründen behaupten, die Stanzen im Gan-
zen von den Logen und Teppichen noch übertroffen
werden". — Der geübte Kunstsinn bemerkt die
höhern Vollkommenheiten dieses Styls in der spie-
gelhellen Klarheit und Deutlichkeit des Bildes, die
uns durch den treffendsten und bestimmtesten Aus-
druck sogleich den Inhalt der Darstellung erkennen
laßt, indem immer ein Theil wechselseitig den an-
dern, und so das Ganze sich vollständig durch sich
selbst erklärt, wie in dem erblindenden Zauberer
Elymas, dem Tode des Anamas, u. a. — In
der Einfachheit und weisen Sparsamkeit, so daß-
der Hauptgedanke sich sogleich ankündigt, und we-
nige, aber bedeutende Figuren einen großen Reich-
thum vvn Ideen darbieten, wie in der predigt
des Paulus an das Volk zu Athen. — In der
völlig kunstlos scheinenden Anordnung der Figuren,
wie in der Meihung des Petrus zum Schlüs-
selamt — In der großen Sicherheit und Energie
des Ausdrucks, welcher immer das rechte Maaß
beobachtet, und mtt fester Hand die Grazie auf die

Grenzlinie des Affekts leitet, und dabey die genia-
lische Freyheit des Geistes in den kunstreich ver-
schlungenen und doch natürlich schönen Gruppen
zeigt, wie in den Seenen des Rmdermords, und
im Schrecken der Wächter bey der Erscheinung des
auferftandenen Christus; endlich auch in dem
einfach großen und reichen Styl der Gewänder,
der, bey der mannigfaltigsten Wahl des Wurfs im-
mer nur das Nothwendige, und dieses stets mit
anmuthiger Freyheit bildet".— » Ern karakteri-
scher Unterschied zwischen den frühem und spätem
Werken Raphaels zeigt sich bann besonders noch
in der Art, wie er dort und hier sich der Natur
bedient hat 168). In den Stanzen z. B. wo bey
wenigem Stoff zum Handeln eine große Anzahl Fi-
guren nöthig war — wo der Künstler mehr phy-
siognomischeu als pathvgnomischen und mimischen
Ausdruck zu zeigen hatte, und wo dennoch Alles
lebt, fühlt, und Theil nimmt, wie im Sakra-
mentsstreit, m der Schule von Athen, im
Parnaß, im Wunder von Bolsena, finden wir
eine Menge von Köpfen, die sich auf den ersten
Blick als wirkliche Bildnisse ankündigen; und Ra-
phael legte aus seinem Gefühle nur noch den Aus-
druck des momentanen Gemüthszustandes hinein,
wie er ihn für seine Darstellung bedurfte: Daher
auch die sprechende Wahrheit der Physiognomien
in diesen Gemälden. So schöpfte er aus der Na-
tur jenen Reichthum mannigfaltiger Individualität,
den wir bey ihm bewundern, und bereitete sich da-
durch vor zu der höchsten Stufe der Erfindung,
zur Schöpfung eigener individueller Bildun-
gen. Darum finden wir den häufigen Gebrauch
aus der wirklichen Natur entlehnter Physiognomien,
womit er begann (und wodurch z. B. lein erstes
Stanzenbild, die Diepura, .dem Künstler, als
Studium des physiognvmischen Ausdrucks, freylich
so wichtig wird) m seinen letzten Werken (rn der
Farnesma, den Logen, dem Spasnno di Sr-
cikia, der Verklarung, und dann eben in den
Leppichen) nicht Mehr. Hier gleicht kein Gesicht
einem wirklichen Bildniß; und doch sind die Phy-
siognomien nicht weniger bedeutend und individuell.
In den Tapeten finden sich zwar einige Köpfe,
die noch jenen Stempel von Wirklichkeit tragen;
aber man darf sie nur genauer betrachten, und
mit jenen in der Disputa vergleichen, um sich zu
überzeugen, daß sie Schöpfungen einer von leben-
digen Eindrücken der Natur erfüllten Einbildungs-
kraft sind. Ihnen mangelt, wenn man so sagen
darf, das Individuelle im Individuelle.:, das bloß
Zufällige der wirklichen Natur, welches jenen noch
anhängt, und ihnen, bey noch so großer Wahrheit,
zugleich eine Kleinlichkeit in den Formen giebt,
welche dem Jdealstyle der dramatischen Malerey,
dessen Raphael sich erst späterhin bemächtigte, wi-
derstreitet. Durch die Schöpfungskraft seines Gei-
stes erwarb er sich nämlich das Vermögen: Auch
den individuellen, physiognomischen Charakter seiner
Menschen, in eben der Mannigfaltigkeit wie die
Natur, aber dem Bedürfnisse seiner Kunst gemäß,
selbst zu schaffen. Dies beweisen zum Lheile schon
einige sejner Stanzengemälde, sein Heliodor, sein
Attila, das Wunder der Messe, wo man eben
sowohl erfundene, als hinwieder bloß ans der Na-
tur entlehnte Physiognomien, beyde mit bewun-
dernswürdiger Mannigfaltigkeit und treffender Wahr-
heit findet. In emigen der Teppiche hinwieder,
wo es für die Darstellung der Menschen aus dem

i6z) Unsers Wissens überhaupt nirgends.
r6D Somit unter die sieben ersten zahlt er aus den sieben nach den Cartons zu Hamptoneourt fünfe,
r6z) Erhalt die neunte Stelle.
r66) Dieser die zehnte.
-67) Also von den zwölfen, deren Cartons vermißt werden, zahlt Fevnow neune unter die geringer»,
168) Das gleich Nachfolgende verdient ganz besonders erwogen zu werden.
 
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