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Ganz, David
Medien der Offenbarung: Visionsdarstellungen im Mittelalter — Berlin, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.13328#0013
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Einleitung

11

„skopisches Regime" zu postulieren.6 Ebenso unfruchtbar wäre es, von allzu einsin-
nigen Bildbegriffen auszugehen, die der mittelalterlichen Kunst übergestülpt werden.7
Um die Differenzen unterschiedlicher Visions- und Bildkonzepte und so etwas wie
historische Entwicklungslinien jedoch überhaupt benennen zu können, halte ich es
für wichtig, eine Matrix von elementaren Koordinaten zu definieren, anhand derer
sich eine Positionsbestimmung differenter Spielarten sowohl der visionären Erfahrung
wie ihrer bildlichen Darstellung vornehmen lässt. In beiderlei Hinsicht, so die Aus-
gangshypothese dieses Buches, sind die topologischen Kategorien des „Ortes" und
der „Grenze" zentral: Sie erlauben es zum einen, das Medienproblem der visionären
Offenbarung prägnant zu rekonstruieren, und sie ermöglichen zum anderen einen
differenzierten Zugriff auf die spezifischen Bildkonzepte von Visionsdarstellungen
des Mittelalters.

Irdischer vs. himmlischer Blick

Die unterschiedliche Sehkraft von Mensch und Gott

Am Ausgangspunkt christlicher Vorstellungen von visionärer Erfahrung steht eine
elementare Spaltung, welche die Welt durchzieht: Menschenwelt vs. Gotteswelt,
Immanenz vs. Transzendenz, terra vs. coelum. Mit dem Sündenfall, so die herr-
schende Überzeugung, wurde die Welt in zwei Hemisphären aufgeteilt, denen eine
unterschiedliche Zugänglichkeit und Durchlässigkeit eignet: Während Gott in den
Bereich der Immanenz hineinzuregieren vermag, bleibt den Menschen die Sphäre der
Transzendenz weitgehend verschlossen. Diese grundlegende Asymmetrie manifestiert
sich vorrangig auf zwei Interaktionsfeldern, der Kommunikation über Sprache und
der Erkenntnis durch das Sehen. Einerseits vermag Gott die Dinge durch Ausspre-
chen seines Logos zu schaffen, lässt er das präexistente Wort Fleisch werden.8 Auf
der anderen Seite ist es erst Gottes Blick, der die geschaffenen Dinge für gut befindet
und ihren Wert innerhalb des Gesamten der Schöpfung erkennt.

Im Zentrum der christlichen Anthropologie des Mittelalters steht damit eine
Differenzierung von Modi und Reichweiten des Visuellen. Von der menschlichen
Erfahrungsmöglichkeit des videre aus geurteilt, bewohnt Gott eine Zone der invisibilia,
einen Bereich des Unsichtbaren. Doch dieser unsichtbare Gott vereinigt das höchste
Maß an Sehkraft auf sich. Nach einer im Mittelalter immer wieder aufgegriffenen
Etymologie leiten sich das griechische Oeöc; wie das lateinische deus von griechisch
68C0Q8LV (schauen, betrachten) ab.9 Die Vorstellung vom allsehenden Gott kommt auch
dort zum Ausdruck, wo von „göttlicher Vorsehung" die Rede ist: „Die Dinge, die du
gemacht hast, sehen wir, weil sie sind; sie sind aber, weil du sie siehst."10 Bereits im
Voraus sieht Gott die Stimmigkeit des Heilsplans, nach dem er selbst den Gang der
Heilsgeschichte lenken wird.11

Umgekehrt erscheint der vom Menschen bewohnte Bereich der visibilia aus der
höheren Warte Gottes durch ein defizitäres Sehen, durch Verdunkelung und Verblen-
dung regiert.12 Wenn die mittelalterliche Etymologie das griechische avGQümoc; auf
 
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