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Andererseits sagen uns unsere Quellen auch nichts davon, wie die Antiochener
auf die Ergebnisse der Jerusalemer Verhandlungen, besonders auf die zweite Verein-
barung, reagierten. Sollten sie gleich damit begonnen haben, die übernommenen Ver-
pflichtungen zu negieren? Das ist kaum anzunehmen. Von dieser großen und doch
wohl auch wohlhabenden Gemeinde durfte vor allem eine angemessene finanzielle
Unterstützung der Jerusalemer erwartet werden. Nun weiß Lukas noch von einer
Kollekte der Antiochener (Act. 11, 27—30). Er datiert sie jedoch vor der Jerusalemer
Konferenz. Die Prophezeiung einer weltweiten Hungersnot durch den Jerusalemer
Wanderprediger Agabus bezeichnet Lukas als Anlaß der Kollekte und macht Paulus
und Barnabas zu ihren Überbringern. Diese Darstellung ist sicher nicht historisch,
wie schon oben erwähnt wurde.90 E. Haenchen vermutet, Lukas habe für diesen Ab-
schnitt unter anderem eine unverstandene und darum entstellte Nachricht von der
Kollektenreise des Paulus nach Jerusalem als Vorlage benutzt. Wie sollte dann aber
Antiochia in den Bericht hineingeraten sein? Die Agabustradition reicht als Erklä-
rung hierfür nicht aus. Es scheint mir durch diese Annahme E. Haenchens auch nicht-
erklärt, warum Paulus und Barnabas Überbringer der Kollekte sind. Es ist vielmehr
wahrscheinlicher, daß sich in Act. 11 die Nachricht von der Kollekte der Antiochener
für die Urgemeinde in Jerusalem verbirgt, wenngleith in entstellter Form. Anlaß,
Zeit usw. sind nicht mehr bekannt. Es erklärte sich auch so ganz gut, wie der Irrtum
entstehen konnte, Paulus und Barnabas hätten die Kollekte überbracht. Beider Name
mußte für die Antiochener an der Kollekte gehaftet haben, wenn auch nicht als Über-
bringer dieser Kollekte nach Jerusalem, sondern als Vermittler der Vereinbarung —
und mit größter Wahrscheinlichkeit auch als Initiatoren und Organisatoren der Samm-
lung in Antiochien.91
Kurz danach kam es anscheinend zu dem Konflikt mit Petrus (Gal. 2,11 ff.), der
die Trennung des Paulus von Barnabas und eine Entfremdung von der antiochenischen
Gemeinde im Gefolge hatte.92 Es begann die selbständige Mission des Paulus.93 Er
zog zuerst nach Galatien und gründete hier eine Reihe von Gemeinden. Von da aus
90 S. oben, S. 13, A. 3. E. Haenchen, Apostelgeschichte, S. 336 ff.
91 F. Hahn, Mission, S. 70 (besonders A. 4) und S. 73 f., hat sich meiner These angeschlossen, sie aber dahin-
gehend ergänzt, daß Lukas die Nachricht von der Überbringung dieser antiochenischen Kollekte durch Paulus
und Barnabas wohl abzunehmen sei. Dem Einwand, daß Paulus von diesem Jerusalembesuch nichts wisse,
begegnet H. mit der unbegründeten Behauptung: „In Gal. 1 f. hat Paulus nur Interesse daran, eine Dar-
stellung bis zu der grundsätzlichen Entscheidung des Apostelkonvents zu geben.“ Dazu ist zu bemerken,
daß der historische Teil zur polemischen Beweisführung des Paulus auch über Gal. 2, 10 hinaus anhält und
außerdem die Erzählung des Paulus „ohne Übergang“ (Schlier z. St.) durch ein ote 8s einfach fortgeführt
wird (vgl. auch Oepke z. St.). Vgl. dazu weiter unten, A. 92 und 93. H. hat gar nicht versucht, die Argu-
mente E. Haenchens und G. Streckers (Jerusalemreise) zu widerlegen, die für den lukanischen Charakter der
jetzigen Gestaltung und Einordnung von Act. 11, 25—30 und 12, 24 f. sprechen. Man kann nicht mehr ein-
fach die Vermutung äußern: „Es ist nicht einmal ausgeschlossen, daß der konkrete Anlaß eine Hungersnot
in Palästina und eine prophetische Weisung waren.“ Die Einwände, die Haenchen und Strecker gegen die
Ursprünglichkeit der Verbindung der Agabustradition und der Kollektentradition erheben, bleiben auch dann
fast alle bestehen, wenn man die Kollektennotiz auf eine besondere antiochenische Kollekte nach dem
Konvent bezieht. Ja, diese Einwände werden dann noch durch den weiteren ergänzt und verstärkt, daß näm-
lich in diesem Fall „der konkrete Anlaß“ für die Kollekte deutlich anzugeben ist: die Abmachung bei dem
Apostelkonvent. H. bemerkt gar nicht, daß seine These von der wesentlichen Glaubwürdigkeit der Agabus-
tradition mit den Aussagen des Paulus in Gal. 2, 10 in Spannung gerät, sowohl was Geist und Buchstabe
des Abkommens als auch was die kurze Notiz des Paulus angeht, er habe sich eifrig bemüht, das Gedenken
zu verwirklichen. H. macht entgegen dem Actatext aus der Prophezeiung eine prophetische Weisung, aus
der Welthungersnot eine palästinische Hungersnot. Diese gegenseitige Verrechnung und gleichzeitige Reini-
gung (ungleichartiger) Angaben erweckt methodische Bedenken. Der behauptete Quellenwert der lukanischen
Nachrichten wird außerdem dadurch erst recht erschüttert.
92 Vgl. dazu E. Haenchen, Apostelgeschichte, S. 414 ff., und oben, S. 20. J. Munck, Paulus, S. 92 ff., vertritt die
These, Gal. 2, 11 ff. berichte ein Ereignis, das vor der Jerusalemer Konferenz stattgefunden habe. Dieser
These widerspricht der chronologische Aufriß von Gal. 1, 13 ff. M. behauptet sogar (S. 86 f.; S. 94 f.;
S. 116 ff.), in Gal. 2, 11 ff. stünde zwischen den Zeilen, daß Petrus (samt Barnabas und den anderen Juden-
Christen) bei dieser Auseinandersetzung in Antiochien schließlich dem Paulus recht gegeben hätten — dies
’ deshalb, weil es doch das entscheidende Argument des Paulus im Rahmen des ganzen großen Angriffs gegen
die judaistischen Propagandisten gewesen sei. Dieses »argumentum e silentio« erledigt sich aber auch durch
die einfache Gegenfrage, warum denn Paulus ausgerechnet diese Zustimmungserklärung verschwiegen hat.
Andererseits sagen uns unsere Quellen auch nichts davon, wie die Antiochener
auf die Ergebnisse der Jerusalemer Verhandlungen, besonders auf die zweite Verein-
barung, reagierten. Sollten sie gleich damit begonnen haben, die übernommenen Ver-
pflichtungen zu negieren? Das ist kaum anzunehmen. Von dieser großen und doch
wohl auch wohlhabenden Gemeinde durfte vor allem eine angemessene finanzielle
Unterstützung der Jerusalemer erwartet werden. Nun weiß Lukas noch von einer
Kollekte der Antiochener (Act. 11, 27—30). Er datiert sie jedoch vor der Jerusalemer
Konferenz. Die Prophezeiung einer weltweiten Hungersnot durch den Jerusalemer
Wanderprediger Agabus bezeichnet Lukas als Anlaß der Kollekte und macht Paulus
und Barnabas zu ihren Überbringern. Diese Darstellung ist sicher nicht historisch,
wie schon oben erwähnt wurde.90 E. Haenchen vermutet, Lukas habe für diesen Ab-
schnitt unter anderem eine unverstandene und darum entstellte Nachricht von der
Kollektenreise des Paulus nach Jerusalem als Vorlage benutzt. Wie sollte dann aber
Antiochia in den Bericht hineingeraten sein? Die Agabustradition reicht als Erklä-
rung hierfür nicht aus. Es scheint mir durch diese Annahme E. Haenchens auch nicht-
erklärt, warum Paulus und Barnabas Überbringer der Kollekte sind. Es ist vielmehr
wahrscheinlicher, daß sich in Act. 11 die Nachricht von der Kollekte der Antiochener
für die Urgemeinde in Jerusalem verbirgt, wenngleith in entstellter Form. Anlaß,
Zeit usw. sind nicht mehr bekannt. Es erklärte sich auch so ganz gut, wie der Irrtum
entstehen konnte, Paulus und Barnabas hätten die Kollekte überbracht. Beider Name
mußte für die Antiochener an der Kollekte gehaftet haben, wenn auch nicht als Über-
bringer dieser Kollekte nach Jerusalem, sondern als Vermittler der Vereinbarung —
und mit größter Wahrscheinlichkeit auch als Initiatoren und Organisatoren der Samm-
lung in Antiochien.91
Kurz danach kam es anscheinend zu dem Konflikt mit Petrus (Gal. 2,11 ff.), der
die Trennung des Paulus von Barnabas und eine Entfremdung von der antiochenischen
Gemeinde im Gefolge hatte.92 Es begann die selbständige Mission des Paulus.93 Er
zog zuerst nach Galatien und gründete hier eine Reihe von Gemeinden. Von da aus
90 S. oben, S. 13, A. 3. E. Haenchen, Apostelgeschichte, S. 336 ff.
91 F. Hahn, Mission, S. 70 (besonders A. 4) und S. 73 f., hat sich meiner These angeschlossen, sie aber dahin-
gehend ergänzt, daß Lukas die Nachricht von der Überbringung dieser antiochenischen Kollekte durch Paulus
und Barnabas wohl abzunehmen sei. Dem Einwand, daß Paulus von diesem Jerusalembesuch nichts wisse,
begegnet H. mit der unbegründeten Behauptung: „In Gal. 1 f. hat Paulus nur Interesse daran, eine Dar-
stellung bis zu der grundsätzlichen Entscheidung des Apostelkonvents zu geben.“ Dazu ist zu bemerken,
daß der historische Teil zur polemischen Beweisführung des Paulus auch über Gal. 2, 10 hinaus anhält und
außerdem die Erzählung des Paulus „ohne Übergang“ (Schlier z. St.) durch ein ote 8s einfach fortgeführt
wird (vgl. auch Oepke z. St.). Vgl. dazu weiter unten, A. 92 und 93. H. hat gar nicht versucht, die Argu-
mente E. Haenchens und G. Streckers (Jerusalemreise) zu widerlegen, die für den lukanischen Charakter der
jetzigen Gestaltung und Einordnung von Act. 11, 25—30 und 12, 24 f. sprechen. Man kann nicht mehr ein-
fach die Vermutung äußern: „Es ist nicht einmal ausgeschlossen, daß der konkrete Anlaß eine Hungersnot
in Palästina und eine prophetische Weisung waren.“ Die Einwände, die Haenchen und Strecker gegen die
Ursprünglichkeit der Verbindung der Agabustradition und der Kollektentradition erheben, bleiben auch dann
fast alle bestehen, wenn man die Kollektennotiz auf eine besondere antiochenische Kollekte nach dem
Konvent bezieht. Ja, diese Einwände werden dann noch durch den weiteren ergänzt und verstärkt, daß näm-
lich in diesem Fall „der konkrete Anlaß“ für die Kollekte deutlich anzugeben ist: die Abmachung bei dem
Apostelkonvent. H. bemerkt gar nicht, daß seine These von der wesentlichen Glaubwürdigkeit der Agabus-
tradition mit den Aussagen des Paulus in Gal. 2, 10 in Spannung gerät, sowohl was Geist und Buchstabe
des Abkommens als auch was die kurze Notiz des Paulus angeht, er habe sich eifrig bemüht, das Gedenken
zu verwirklichen. H. macht entgegen dem Actatext aus der Prophezeiung eine prophetische Weisung, aus
der Welthungersnot eine palästinische Hungersnot. Diese gegenseitige Verrechnung und gleichzeitige Reini-
gung (ungleichartiger) Angaben erweckt methodische Bedenken. Der behauptete Quellenwert der lukanischen
Nachrichten wird außerdem dadurch erst recht erschüttert.
92 Vgl. dazu E. Haenchen, Apostelgeschichte, S. 414 ff., und oben, S. 20. J. Munck, Paulus, S. 92 ff., vertritt die
These, Gal. 2, 11 ff. berichte ein Ereignis, das vor der Jerusalemer Konferenz stattgefunden habe. Dieser
These widerspricht der chronologische Aufriß von Gal. 1, 13 ff. M. behauptet sogar (S. 86 f.; S. 94 f.;
S. 116 ff.), in Gal. 2, 11 ff. stünde zwischen den Zeilen, daß Petrus (samt Barnabas und den anderen Juden-
Christen) bei dieser Auseinandersetzung in Antiochien schließlich dem Paulus recht gegeben hätten — dies
’ deshalb, weil es doch das entscheidende Argument des Paulus im Rahmen des ganzen großen Angriffs gegen
die judaistischen Propagandisten gewesen sei. Dieses »argumentum e silentio« erledigt sich aber auch durch
die einfache Gegenfrage, warum denn Paulus ausgerechnet diese Zustimmungserklärung verschwiegen hat.