Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Gerstenberg, Kurt
Ideen zu einer Kunstgeographie Europas — Bibliothek der Kunstgeschichte, Band 48/​49: Leipzig: Verlag von E.A. Seemann, 1922

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.61188#0018
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
11.
Die kunstgeschichtlichen Strömungen gehen nicht
wie Strahlen von einem Kraftspender nach allen Seiten
in gleicher Wellenform und Stärke aus, sondern immer
sind große, einheitliche, richtungsbestimmte Entwick-
lungen wahrzunehmen. Der künstlerischen Bewegung
von Süden nach Norden in der Romanik folgt erst
wieder eine gleiche Entwicklungsströmung in der Re-
naissance. Zwischen beiden wird mit ungeheurer Wucht
der Stoß spürbar, den die Gotik von Westen nach Osten
führt. In der Wirtschafts- und Siedelungsgeschichte
vollzieht sich die Ausbreitung in der Form, daß die
Pioniere, die zuerst Kulturarbeit geleistet haben, auch
immer wieder vorrücken, um Neuland zu erobern. Hinten-
nach drängt die breite Masse in deren früheres Gebiet
ein. In der Kunstgeschichte dagegen ist immer wieder
zu beobachten, daß nicht solch ein allmähliches Vor-
rücken stattfindet, sondern tief hinein ins Herz des
Landes, das erobert werden soll, stößt der neue Stil
vor. Allmählich erst wird der Zwischenraum gefüllt.
Diese Art der Kunstwanderung wiederholt sich in fast
gesetzmäßiger Typik. Zwei Beispiele aus der Gotik
mögen das erhellen. Wie dringt die Gotik nach Deutsch-
land? Nicht erst an den Rhein, dann allmählich sich
über die deutschen Gaue verbreitend, sondern mit einem
Sprung weit ins Land. Magdeburg ist die erste Station
der Gotik in Deutschland. Das Hallensystem des Domes
zu Paderborn wirkt bestimmend auf den gesamten Kir-
chenbau des Landes. Wo aber liegen die nächsten Vor-
gänger? In Westfrankreich, in Poitou und Anjou, und
es fehlt durchaus an verbindenden Zwischenstufen. Zwar
liegen auf der Straße dazwischen eine Anzahl kleiner
holländischer Kirchen mit dem gleichen Bausystem,
aber sie können nicht als Vermittler gelten, sondern
sind Trabanten der großen Gestirnsbewegung. Andere
Stilentfaltungen bieten ein gleiches Bild. Die byzanti-

14
 
Annotationen