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hervorbricht — so erwacht in mir ein unaussprechliches Gefühl der Beseeligung, Beruhigung,
Harmonie. Es ist, als ob ein Drückendes von mir genommen wäre, einem langen Sehnen seine
endliche Erfüllung würde. Was ist jenes Drückende, das in unser Geistesleben finsteren Schatten
wirft, und warum weicht es vor der sonnengleichen Wirkung, die der Einblick in das unendliche
All — und sei es auch nur ein kleiner Ausschnitt desselben, so weit ihn eben unvollkommener,
menschlicher Sinn in einem Momente zu erfassen vermag — in unserem Gemüthe wachruft?
Das Drückende entspringt aus unserem Wissen, der reifen Frucht vom Baume der Erkenntnis.
Wir wissen jetzt, dass ein Causalitätsgesetz die ganze Schöpfung durchzieht. Jedes Werden
bedingt ein Vergehen, jedes Leben fordert einen Tod, jede Bewegung geschieht auf Kosten anderer.
Ein end- und ruheloser Kampf ums Dasein, unter dem der mit Verstand und Gefühl so hoch
begabte Mensch unendlich mehr leidet als die unscheinbaren Lebewesen, deren der Mensch
hunderte mit einer Bewegung vernichtet. Seit Jahrtausenden war alle menschliche Culturarbeit
darauf gerichtet, das natürliche, aber brutale Recht des Stärkeren zu bannen und durch eine
befreiende Weltordnung zu ersetzen. Heute, am Ende so langer und grosser Mühen erscheint uns
unser Geschick unentrinnbar, unvermeidlich. Statt Ruhe, Friede, Harmonie ein endloser Kampf,
Zerstörung, Missklang, soweit überhaupt Leben und Bewegung reicht.
Was nun die Seele des modernen Menschen bewusst oder unbewusst ersehnt, das erfüllt
sich dem einsam Schauenden auf jener Bergeshöhe. Es ist nicht der Friede des Kirchhofs, der ihn
umgibt, tausendfältiges Leben sieht er ja spriessen; aber was in der Nähe erbarmungsloser Kampf,
erscheint ihm aus der Ferne friedliches Nebeneinander, Eintracht, Harmonie. So fühlt er sich erlöst
und erleichtert von dem bangen Drucke, der von ihm keinen Tag seines gemeinen Lebens weicht.
Er ahnt, dass weit über den Gegensätzen, die ihm seine unvollkommenen Sinne in der Nähe
vortäuschen, ein Unfassbares, eine Weltseele alle Dinge durchzieht und sie zu vollkommenem
Einklänge vereinigt. Diese Ahnung aber der Ordnung und Gesetzlichkeit über dem Chaos, der
Harmonie über den Dissonanzen, der Ruhe über den Bewegungen nennen wir die Stimmung.
Ihre Elemente sind Ruhe und Fernsicht.
Aus meinem andächtigen Schauen wurde ich durch ein Geräusch gestört. Eine Gemse ist in
der Nähe aufgesprungen und eilt mit heftigen Sätzen hinweg über benachbarte Hänge. Mit einem
Rucke ist meine ganze Aufmerksamkeit von der friedlichen Landschaft ab- und der Gemse zuge-
wendet. Unwillkürlich zuckt die Rechte, wie nach der Flinte, es meldet sich das Raubthier, das das
schwächere als Beute in den Bereich seiner Tastorgane bringen möchte. Allerdings erweist sich
der Bergstock — meine einzige mitgebrachte Waffe — dazu ungenügend; aber der Blick verfolgt
mit gierigem Wohlgefallen die Bewegungen des Thieres, bis es hinter einer Felsecke ver-
schwindet. Und nun? die schöne Stimmung ist hinweg, verscheucht, verschwunden. Ein so
subtiles Ding ist diese Stimmung, dass eine Lebensregung in der Nähe genügt, um sie hinwegzu-
blasen. Ein einziger Vogelschrei in der Luft kann dieselbe Wirkung haben; desgleichen ein
scharfer Windhauch, der mich frösteln macht und meinen Mantel fester schliessen heisst, ein
kräftigerer Sonnenstrahl, der meinen Nacken brennt: nicht organische Lebewesen also, aber auch
sie Bewegungen, die Bewegungen herausfordern. Es ist die Gegenprobe auf jene Elemente, —
Ruhe und Fernsicht — aus denen die Stimmung hervorgeht: Bewegung und Nahsicht haben
mich in den Kampf ums Dasein zurückgeschleudert.
Die erlösende Stimmung erblüht uns aber nicht bloss auf überragenden Alpenhöhcn, die die
moderne Menschheit so gerne aufsucht, zum bezeichnenden Unterschiede von unseren antiken
und mittelalterlichen Vorfahren, die den Kampf in den Thälern suchten. Auch dort wo das Niveau
 
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