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ergänzt. Ja, wir haben in Wien schon zwei Ausstellungen der graphischen Kunst Münchs gehabt
und dazu noch eine große Bilderkollektivausstellung im Hagenbund 1912; sie sind alle ganz ruhig
verlaufen, die in der Albertina sogar so ruhig, daß in der Presse nicht einmal ein ausführlicher
Bericht darüber zu lesen war — man sieht, daß unsere Empfänglichkeit für Münch jedenfalls nicht
der Grund war, daß es hier in Wien zu keinem Skandal gekommen ist. In Berlin nämlich war es
zu einem großen Skandal gekommen, als Münch 1892 zum erstenmal ausstellte. Die Vereinigung
der Berliner Künstler hatte ihn auf die Empfehlung eines in Berlin lebenden norwegischen Malers
hin dazu eingeladen, aber die (fünfundfünfzig) Werke erregten solchen Unwillen, daß nach der
Eröffnung noch die Vereinsleitung (A. von Werner führte den Vorsitz) die Kollektion eliminieren
wollte. Die Ausstellung wurde nach wenigen Tagen geschlossen. Eine große Anzahl Künstler, die
das unfaire Vorgehen der Kollegen mißbilligten, traten aus der Vereinigung aus, und es kam dann
im weiteren Verlauf zur Gründung der Berliner Sezession. Wir können heute diesen Protest nicht
mehr verstehen ....

Münch wurde 1861 als Sohn eines Arztes geboren, hatte die Kindheit in Löiten in Hedemarken
und in Kristiania verbracht; seine künstlerische Erziehung hatte ihm der Maler Christian Krogh
gegeben. Durch diesen war die erste Beziehung zu Paris (zum späten Manet) geschlossen. 1899
verließ Münch die Heimat, sein Ziel war Paris, wo er in das Atelier Bonnats eintrat, aber daneben
alle Eindrücke, die die Stadt und ihre Kunst ihm geben konnten, auf sich wirken ließ. Die Bilder
dieser Jahre, die Künstler und Publikum in Berlin so gewaltig aufregten, muten uns heute wie
klassische Werke der spätimpressionistischen Zeit an — und wir müssen es uns in Erinnerung
rufen, daß es noch jenes offizielle königliche Berlin war, in dem auch Liebermann erst sich durch-
setzen mußte ....

Die Anfänge der Graphik Münchs fallen in die folgenden Jahre; 1894 ist seine erste Kaltnadel-
radierung, ein Herrenporträt, das Kinn in die Hand gestützt (Sch. 1, abgebildet bei G. Schießer,
Edvard Münchs graphische Kunst, Dresden 1923, Abb. 1, und Curt Glaser, Münch, Berlin 1917,
Abb. 33), entstanden, im nächsten Jahr schon die ersten Lithographien, darunter das bekannte
Selbstporträt (Sch. 31, Abb. 71); der Kopf en face wirkt seltsam nah und doch zurückgezogen in den
schwarzen Grund. Wie ein Geist, der aus einer anderen Welt uns grüßt. Münch war schwer krank
gewesen, er hatte sich dem Tode nahe gefühlt »und zeichnete den Arm, der ihn berührt hatte«.
Die ganze untere Breite des Blattes nimmt dieser Arm ein; das ist die Schwelle, über die der blasse
Mensch wieder zu uns herüberkommt. Die Anekdote von Böcklins »Selbstporträt mit dem Tod« ist
bekannt.2 Solche ausschließlich formale Anregung dürften wir bei Münch nicht annehmen. Bei ihm
ist gewiß der Ausdruck, das was er sagen will, das Primäre, das sich die Form, wie er es sagen
will, schafft. Im fertigen Werk ist dann freilich beides unlösbar verbunden. Ja, unlösbar. Und wo
sie der Künstler selbst etwa nachträglich gelöst hat, wenn er zum Beispiel die Streifen hier am
Selbstporträt oder die Zacken und Wellen, die in den Kontur eines nackten Weibes fließen, um
den Strindberg-Kopf (Sch. 77, Glaser, Abb. 155) oder das Spermaornament um die Madonna (Sch. 33,
abg., Schießer Abb. 19 und Glaser Abb. 43) fallen ließ, ist es zum formalen Nachteil des Blattes
geschehen. Münch hatte sich an der Überdeutlichkeit dieser Beigaben gestoßen, die ihm für den
schwebenden Ausdruck seiner Visionen zu aufdringlich wurden; er hatte sich an der Logisierung
des Ornamentes gestoßen, die das Programm des »Jugendstiles« geworden war; indem er aber die
ganze Rahmung entfernte und mit dem geistigen Ausdruck sich auch über die formalen Werte

1 Die kursiv gesetzten Xummern bedeuten die Abbildungen in diesem Aufsatz.

2 Abgedruckt in dem Büchlein »Der Malkasten«, Künstleranekduten, gesammelt und erzählt von Arthur Roeßler, Tal-Verlag 1924, p. 20.

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