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Gesichtes, viel stärker in seiner
Einsamkeit des Abschiedneh-
mens — jeder ist allein, wenn
er stirbt —, seitdem nicht mehr
die Mutter mit ihrer Trauer ab-
lenkt, uns weinen hilft . . . Mit
dieser Lithographie geht es mir
sonderbar; sie ist mir in der
Reproduktion — oder besser in
der Erinnerung lieber als im
Original. Vielleicht ist das nur
ein durchaus persönliches Re-
agieren; vielleicht aber ist der
Ausdruck wirklich zu stark und
kann allein in der abstraktesten
Form rein wirken: in dem ver-
kleinerten Format der Repro-
duktion, in der Kürzung und
Entmaterialisierung einer Vor-
stellung. In der lebensgroßen
Lithographie kommt bei der Be-
trachtung eine so intensive kör-
perliche Einfühlung dazu, daß
ich das Blatt als sentimental, als
gefühls üb erbetont empfinden
muß ....

Auch »Der Kuß« (Sch. 22,
Kaltnadel und Aquatinta, Abb. 3)
von 1895 ist eine alte Bildidee, die schon 1892 in einem Gemälde (Glaser Abb. 17) behandelt ist.
Ein Mann und eine Frau in engster Umarmung stehen vor dem geschlossenen Fenster, draußen ist
die Straße. Der stimmungsgetränkte Gegensatz von Einsam und Offen, den so oftRembrandt lyrisch-
innig in dem Dunkel der Haustüre und in dem Tag des Dorfes fühlte — ist hier mit allen starken
Assoziationen eines Menschen der Gegenwart, eines Menschen unserer Zeit herausgearbeitet worden.
Das Süße der Heimlichkeit, das ein Grundzug der Erotik ist, liegt darinnen. Das Peinliche des Über-
raschtwerdenkönnens — das Liebespaar fürchtet es nicht, aber dem Beschauer, der die Straße sieht,
ist es ein Reiz mehr. Die formale Erscheinung, die sich der Ausdruck schafft: die geschlossene Form
vor der offenen Rahmung, die sie aufnimmt; das Dunkel und die Halbtöne bis ins Licht hinaus — das
sind Probleme, die auch in anderen Blättern dieser Zeit, zum Beispiel dem »Mädchen im Hemd am
Fenster« (Sch. 5, Schiefler Abb. 4, Glaser Abb. 16) und »Mondschein« (Sch. 13, Abb. 4) von 1894 und
1895 behandelt werden. Sie wachsen aus dem formalen Motivenschatz der französischen Radierung,
aus Manet und Degas heraus. »Mondschein« legt den Schatten des Fensterkreuzes auf den beschie-
nenen Estrich des Zimmers herein; dunkle Vorhänge fassen und kontrastieren das Licht, in zarten
Zwischentönen schwingt der Raum, beim Fenster fließen sie zur einfachen Silhouette: dort sitzt ein
Mann, hat den Hut auf dem Kopf, stützt den Arm auf, schaut hinaus in das weiße Dämmerlicht.

Abb. 3. Edvard Münch, Der Kuß (1895).

Radierung.

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