Alfred Gerstenbrand. Frische Ziegenmilch (Florenz).
Lavierte Zeichnung.
Dies alles wirkte zusammen,
Gerstenbrand zum berufenen Schil-
derer wienerischen, namentlich klein-
bürgerlichen Lebens zu machen. Seine
Stärke ist es, daß er den Wiener
gleichsam von innen sieht, jenen
Wiener zumal, der die Wiener Kaffee-
häuser und die Wiener Heurigen, diese
beiden weltberühmten Wahrzeichen
Wiens, bevölkert,-und daß er uns,
indem er dieses Wieners äußere Um-
risse festhält, gleichzeitig dessen Seele
gibt. Überaus bezeichnend für dieses
künstlerische Erfassen eines Wesens-
extraktes ist die beigegebene Original-
lithographie Gerstenbrands »Wiener
Kaffeehaus«. Der Zeitungsmarder,
der bei seiner »Nuß Gold« die Er-
füllung seines Lebens im Ver-
schlingen sämtlicher erreichbarer
Presseerzeugnisse sieht, die Frauen-
welt, die in den behaglichen Räumen
ihre galanten Abenteuer anspinnt
oder, gesetzter geworden, hier einen
vollwertigen Ersatz für das längst
aus der Mode gekommene Kaffee-
kränzchen findet — sie sind nicht nur
lebenswahr abgeschilderte Einzel-
gestalten, sondern noch viel mehr endgültige Typen, Muster von Rasseexemplaren sozusagen,
untrennbar verbunden mit Umwelt, Luft und kosmischer Anschauung des Wienertums. Mag sein,
daß eine spätere Zeit die künstlerischen Ausdrucksformen ändern, fortentwickeln wird; über das
Wesentliche, das Innerste von Gerstenbrands Gestaltung des Wieners wird sie nicht hinausgehen:
hier wurde Abschließendes gesagt und geschaffen. Es ist daher auch kein Zufall, daß Gersten-
brand mit dem allzufrüh verstorbenen Rudolf Stürzer, dem letzten und vielleicht besten und
tiefsten literarischen Schilderer Wiens, sich zu gemeinsamer Arbeit verband. In der »Lamplgasse«,
deren — ebenfalls analytischer — Aufbau eine ganz neue Romanform darstellt, gaben beide Künstler
gemeinsam eine Art Natur- und Kulturgeschichte des Wieners (die Gerstenbrand später selbständig
in der auch dem Text nach von ihm stammenden Idylle »Die Leut' vom 22er Haus« aufs glück-
lichste fortsetzte) und damit ein menschliches Dokument, dessen Werte erst eine spätere, seelischer
Distanz besser fähige Zeit wird zu er- und anzuerkennen vermögen. Es blieb nur die Frage, ob
damit die Begabung des Künstlers umgrenzt, ob die Umwelt, die ihm auf dem Wege genetischer
Entwicklung Willen und Kraft des Ausdruckes gab, seine Fähigkeiten erschöpfen werde.
Nun, Gerstenbrand hat diese Frage durch die reiche Ausbeute, die er von seinen Reisen mit-
brachte, in dem für ihn denkbar günstigsten Sinne beantwortet. Heute wissen wir: Weit entfernt
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Lavierte Zeichnung.
Dies alles wirkte zusammen,
Gerstenbrand zum berufenen Schil-
derer wienerischen, namentlich klein-
bürgerlichen Lebens zu machen. Seine
Stärke ist es, daß er den Wiener
gleichsam von innen sieht, jenen
Wiener zumal, der die Wiener Kaffee-
häuser und die Wiener Heurigen, diese
beiden weltberühmten Wahrzeichen
Wiens, bevölkert,-und daß er uns,
indem er dieses Wieners äußere Um-
risse festhält, gleichzeitig dessen Seele
gibt. Überaus bezeichnend für dieses
künstlerische Erfassen eines Wesens-
extraktes ist die beigegebene Original-
lithographie Gerstenbrands »Wiener
Kaffeehaus«. Der Zeitungsmarder,
der bei seiner »Nuß Gold« die Er-
füllung seines Lebens im Ver-
schlingen sämtlicher erreichbarer
Presseerzeugnisse sieht, die Frauen-
welt, die in den behaglichen Räumen
ihre galanten Abenteuer anspinnt
oder, gesetzter geworden, hier einen
vollwertigen Ersatz für das längst
aus der Mode gekommene Kaffee-
kränzchen findet — sie sind nicht nur
lebenswahr abgeschilderte Einzel-
gestalten, sondern noch viel mehr endgültige Typen, Muster von Rasseexemplaren sozusagen,
untrennbar verbunden mit Umwelt, Luft und kosmischer Anschauung des Wienertums. Mag sein,
daß eine spätere Zeit die künstlerischen Ausdrucksformen ändern, fortentwickeln wird; über das
Wesentliche, das Innerste von Gerstenbrands Gestaltung des Wieners wird sie nicht hinausgehen:
hier wurde Abschließendes gesagt und geschaffen. Es ist daher auch kein Zufall, daß Gersten-
brand mit dem allzufrüh verstorbenen Rudolf Stürzer, dem letzten und vielleicht besten und
tiefsten literarischen Schilderer Wiens, sich zu gemeinsamer Arbeit verband. In der »Lamplgasse«,
deren — ebenfalls analytischer — Aufbau eine ganz neue Romanform darstellt, gaben beide Künstler
gemeinsam eine Art Natur- und Kulturgeschichte des Wieners (die Gerstenbrand später selbständig
in der auch dem Text nach von ihm stammenden Idylle »Die Leut' vom 22er Haus« aufs glück-
lichste fortsetzte) und damit ein menschliches Dokument, dessen Werte erst eine spätere, seelischer
Distanz besser fähige Zeit wird zu er- und anzuerkennen vermögen. Es blieb nur die Frage, ob
damit die Begabung des Künstlers umgrenzt, ob die Umwelt, die ihm auf dem Wege genetischer
Entwicklung Willen und Kraft des Ausdruckes gab, seine Fähigkeiten erschöpfen werde.
Nun, Gerstenbrand hat diese Frage durch die reiche Ausbeute, die er von seinen Reisen mit-
brachte, in dem für ihn denkbar günstigsten Sinne beantwortet. Heute wissen wir: Weit entfernt
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