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Glasenapp, Helmuth von
Die Literaturen Indiens: von ihren Anfängen bis zur Gegenwart — Stuttgart, 1961

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https://doi.org/10.11588/diglit.51388#0166
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DER KANON DER SHVETAMBARAS 147
Die Form, in der die heiligen Werke abgefaßt sind, ist sehr-
mannigfaltig. Neben einfacher Prosa finden wir eine solche
kunstvollen, ja überkünstelten Charakters, neben schlichten
Shloken und Äry äs trophen stehen Verse in schwierigen Metren.
Groß ist die Zahl der Wiederholungen und schablonenhaften
Wendungen; um sich der Mühe zu entheben, diese oft ziem-
lich langen, ständig gleichbleibenden Stücke stets erneut zu
kopieren, pflegen die Abschreiber der Texte diese zumeist
nur bei ihrem erstmaligen Vorkommen wiederzugeben, bei
den Wiederholungen aber einfach mit ein paar Stichworten
auf frühere Stellen zu verweisen.
Der Kanon will eine vollständige Darstellung der Jaina-
Lehre geben und ihre Anwendung auf alle Gebiete des Lebens
zeigen. Dieser Absicht entsprechend, ist er seinem Inhalt nach
sehr vielseitig. Metaphysische und kosmographische Erörte-
rungen wechseln mit Legenden aus dem Leben heiliger Män-
ner, bis ins einzelne gehende Vorschriften über das richtige
Verhalten von Laien und Mönchen werden erläutert durch
Erzählungen, welche die Macht der Tat sowie die Belohnung
der Guten und die Bestrafung der Schlechten dartun sollen,
Beichtformeln und Hymnen auf die Tirthankaras dienen kul-
tischen Zwecken. Im großen und ganzen ist der Kanon trotz
seiner hohen Bedeutung in religions- und sprachgeschicht-
licher Hinsicht keine besonders interessante Lektüre. Die
trockene und schematische Art der Darstellung nimmt dem
Vorgetragenen nur zu oft den ästhetischen Reiz, und in den
blutleeren Auf zähl ungen der Texte vermißt man den Atem-
zug des großen Mannes, der, nach der eigenen Aussage der
heiligen Schriften durch seine zündende Beredsamkeit alle
seme Hörer in seinen Bann zog.
In seiner uns heute vorliegenden Gestalt trägt der Kanon deut-
lich Zeichen vielfältiger Überarbeitung an sich. In dem Jahrtausend,
das der Tradition zufolge zwischen dem Tode Mahäviras und der
Schlußredaktion der heiligen Schriften lag, sind vielerlei Hände
an ihm tätig gewesen, so daß sich verschiedene Schichten in der
Überlieferung eines Werkes konstruieren lassen. Daß die kanoni-
schen Texte verschiedenen Zeiten entstammen, wird übrigens von
den Jainas selbst zugegeben: nur die Hauptwerke des Kanons, wie
 
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