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Inzwischen vollzog sich abseits der kunstgeschichtlichen Literatur die
Wiederentdeckung Cranachs. In Kreisen jüngerer Künstler erwachte eine
Liebe für den Wittenberger Meister, die aus einer dunkel empfundenen
geistigen Verwandtschaft erwuchs. Und die neue Bewunderung wandte
sich nicht den Werken des werdenden Meisters, sondern denen des voll-
endeten Cranach-Stiles zu. Wenn Cezannes Ideal ein „Poussin entierement
refait sur nature" gewesen ist, so war es das Ziel deutscher Maler, eine
Stilsicherheit wiederzuerlangen, wie sie in den Werken des alten Cranach
vorgebildet lag. Die gleiche Generation, der Grünewalds unerhörte Aus-
drucksfähigkeit als ein unerreichtes Ideal erschien, sah in Cranachs Akt-
kompositionen das Vorbild einer klassischen Kunst nationalen Gepräges.

Das Ideal der Geschichtschreibung ist überzeitliche Gerechtigkeit.
Aber es erweist sich immer wieder, daß auch das historische Urteil
nicht unabhängig ist von der Einstellung des künstlerischen Geschmackes
einer Zeit. Im Falle Cranachs ergibt sich die besondere Schwierigkeit,
daß die Versuchung entsteht, den einen Teil seines Werkes zugunsten
des anderen herabzusetzen, je nach dem Standpunkte, den der Beurteiler
einnimmt. Die Zeit, die den jungen Cranach entdeckte, war wenig ge-
neigt, das Scharfen des alten Meisters zu würdigen, und heute vermöchte
die Freude an den Erzeugnissen des vollendeten Stiles der Werkstatt den
Geschmack an den Schöpfungen des werdenden Meisters zu verleiden.
Ein Standpunkt aber, der beiden Ausdrucksformen gleicherweise gerecht
zu werden versucht, ist wenig dankbar, da er der Einheitlichkeit er-
mangelt. Und doch kann nur dies der Standpunkt des Historikers
sein. Wohl gerät er in die Gefahr, daß sein Urteil zwiespältig er-
scheint, da er mit anderen Augen die frühe Epoche, mit anderen die
Spätzeit des Meisters betrachtet. Er steht vor der Notwendigkeit, die
Einheitlichkeit seiner Darstellung zum Opfer zu bringen, da er beide
Male diejenige Einstellung sucht, die eine positive Wertung ermöglicht.
Aber er bringt das Opfer, da der Stoff es verlangt, der selbst diese Zwie-
spältigkeit als eine unauflösbare Problematik in sich schließt.

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