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XXXI
Dagegen scheint die Kunstphilosophie eines Lessing auf den ersten
Blick veraltet und abgetan. Erst bei geduldigem Nachdenken und
Nachfühlen kann man entdecken, daß viel Lebendiges in Lessings
Laokoon steckt. Erst wenn man sich die Magisterperücke des
Lehrers wegdenkt, der nach heutigem Ermessen über die Grenzen
der schönen Künste pedantisch Theorien aufstellte, erkennt man,
daß er uns noch manche nützliche Mahnung zuteil werden läßt,
sobald wir ihm ohne Vorurteil nahen.
Wer Lessings Gedankengang aus den Worten seiner Zeit in die
Worte unserer Zeit zu übertragen sucht, wird zu folgendem Er-
gebnis kommen: Schönheit ruft unser Gefühl an. Je klarer, rich-
tiger, edler das Gefühl ist, das von ihr wachgerufen wird, desto höher,
edler, vollkommener ist die Schönheit, die ihre holden Lippen An-
mut lehrend auftut. Alle Künste sind zu solcher Lehre berufen,
können aber nur ihres Amtes walten, wenn jede in ihrem Fach
weise und sinnreich wirkt. Philosophie soll nicht getanzt, Musik
und Dichtkunst nicht gemalt, Malerei und Bildhauerei nicht ge-
dichtet noch musiziert werden. Wohl halten sich die Musen
freundlich an Händen oder gehen Schulter an Schulter geschmiegt,
aber sie sollen keine widerlichen Umarmungen vor unseren Augen
feiern. Ihre Liebe zueinander muß apollinisch bleiben, niemals in
orgiastischer Verzückung die Locken schütteln und die formvoll ge-
rafften Gewänder auseinanderreißen. Was sich die Künste mit-
zuteilen haben, kann mit innigem Blick, mit Händedruck von einer
Schwester zur anderen geschehen. Jede hat das Recht, hat die
Pflicht zur Persönlichkeit, die Aufgabe, i h r Eigenwesen vollkommen
auszubilden und die ihr zugekehrte Seite menschlicher Eigenart
möglichst auszubilden.
Wir verkleinern und verringern, wir verhäßlichen, wenn wir mit
Vermessenheit meinen, die apollinischen Grenzen zwischen den
Künsten verwischen zu dürfen und sie alle auf einmal hören, sehen
und fühlen zu wollen. Das gibt nur ein Chaos, das die sehnsuchts-
voll nach Schönheit tastenden Sinne verwirrt, statt ihre Wünsche
zu klären. Beste Aufklärung ist jene Klärung, die von den Künsten
selbst ausgeht, wenn ihre Begrenzung erhalten bleibt.
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