Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Gleichen-Rußwurm, Alexander
Die Schönheit: ein Buch der Sehnsucht — Stuttgart: Verlag Julius Hoffmann, 1916

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.65310#0149
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
wird, ob das Unglück, das ihn betroffen, interessante Seiten hat,
in welcher Art sein Standhalten leise oder laut zu kritisieren wäre
von der Überlegenheit der Glücklicheren aus, wie es die Freunde
Hiobs getan.
Um edel zu sein, muß das Mitleid durch ästhetisches Gefühl voll-
kommen von diesen Schlacken gereinigt werden. Große Heilige
bemühten sich immer wieder, es zur Selbstverständlichkeit zurück-
zuführen, nachdem mißdeutetes Christentum Barmherzigkeit und
Mildtätigkeit zu Dienerinnen der Eitelkeit herabgewürdigt.
Das instinktive Bestreben hoher, edler Naturen geht dahin, sich im
Leid von den Menschen zurückzuziehen, deren Mitleid und Beileid
möglichst zu vermeiden, weil sie jene Mischung von Neugier, Schaden-
freude und kritisierender Überlegenheit peinlich empfinden.
Gewöhnliche Naturen hingegen empfangen diese Seelenkost ohne
inneren Widerstand und setzen der Eitelkeit, die sich ihnen mit
dem Ausdruck des Mitgefühls zuneigt, eigene Eitelkeit entgegen.
Daher stammt die Sucht, das Leid, das uns betroffen, möglichst
dramatisch und übertrieben zu schildern, und wenn wir nicht durch
unser Glück imponieren können, durch bewegtes Schicksal Aufmerk-
samkeit anzuziehen, in besonderer Pose vorteilhaft zu erscheinen.
Aber das ästhetische Mitleid, die Fähigkeit zum Mitleid, die das
Kunstschöne erzeugt, ist gereinigt und klar.
Es ist (wie Lessing behauptet) geeignet, den Mann von Verstand
wie den Dummkopf zu bessern und die geschickteste Lehrmeisterin
des Volkes zu sein. Wohlverstanden des Volkes, nicht des Pöbels,
denn dieser ist ästhetischer Erziehung gegenüber hoffnungslos.
Es ist schwer, Denken zu lernen, wie es schwer ist, Gehen zu
lernen.
Beim Anblick der ersten Bemühungen eines Kindes kann man un-
willkürlich erinnert werden an die Denkversuche der ernsthaftesten
Geister.
Wie das Kind mit wichtiger Miene seine Gehversuche nach einem
angestrebten interessanten Ziele lenkt und plötzlich komisch strauchelt,
so endet auch mancher geistige Anlauf vor dem Ziel.
Mit wichtiger Miene nahmen unzählige Denker und Denkenwollende
des 18. Jahrhunderts erneut jene theoretischen Spekulationen auf,
135
 
Annotationen