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Gelingt es ihr, das Verschlossene zu öffnen, das Absterbende neu
zu beleben, ist es geöffnet für die höhere Schönheit, für Helena,
die viel gescholten, viel verkannt, ewig preisenswert und königlich
bleibt. Sie ist würdig, daß Schlachten um sie toben. Aber selbst
unberührt webt und stickt sie weiter an goldenen, köstlichen Ge-
bilden. Und wenn sie still über die Wälle schreitet, zu deren
Füßen soviel Schreckliches geschieht, verstummen selbst die Greise
vor der unbegreiflich Hohen und beugen das Haupt.
Weil er diese Helena geliebt und ihren Mantel festgehalten, ist Faust
ein zu höchst Lebendiger, ein zu höchst Schaffender geworden. Weil
er sie ahnend, sehnsuchtsvoll geliebt, mußte er die Träume verachten,
die ein Teufel den Menschen als schön vorzugaukeln gewohnt ist.
Faust verschmäht den Ehrgeiz weltlicher Größe am Kaiserhof. Grotesk,
häßlich, verwirrt und unsinnig erscheint ihm, was andere am Krieg zu
bewundern sich getrauen. Er reißt den Verlockungen von Mephistos
dargebotenem Kriegsruhm die Schönheitsmaske herunter. Er sieht Frau
Eilebeute mit ihren Spießgesellen in ekler Häßlichkeit. Doch mit seiner
Erklärung, der Krieg an sich sei häßlich und abgeschmackt:
Im Grunde sind es Knechte wider Knechte
will Goethe den Menschen durchaus nicht zum faulen Phäaken, zum
entsagenden Fakir machen. Er bewundert und ehrt seine Kampf-
natur. Sie soll sich freudig äußern im Kampf mit dem Element,
im titanischen Ringen mit der Natur.
Doch das Letzte enthüllt sich traumhaft.
Um dies Letzte anzudeuten, schließt sich Goethe eng an Plotins
extatische Erkenntniskreise. Er nimmt dessen Worte im Chorus
mysticus wieder auf:
Alles Vergängliche
Ist nur ein Gleichnis.
Gretchen, die sinnlich empfundene Schönheit, verdarb und starb,
Helena selbst war nur ein vergängliches, wenn auch das höhere,
das höchste Gleichnis.
Das ewig Weibliche zieht uns hinan, die mütterliche Milde der nicht
vergänglichenSchönheit, der gnostisch-mystischen Sophia, die den kraft-
voll in unsterblicher Sehnsucht nach ihr strebenden Geist allein von
allen Unzulänglichkeiten des Erdenwallens zu erlösen vermag.

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