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Gleichen-Rußwurm, Alexander
Die Schönheit: ein Buch der Sehnsucht — Stuttgart: Verlag Julius Hoffmann, 1916

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https://doi.org/10.11588/diglit.65310#0275
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Sterbliche, wenn es nicht sterben müßte? Der Tod gehört zu
uns, auch zu unserem Gefühl der Schönheit.
Ist die Liebe nicht stets flugbereit ? Das Lächeln des Kindes ist
rührend schön, weil es flüchtig ist, der Sommertag, weil er zu
Ende geht, die Blumenaugen, weil sie kaum erschlossen, sich schließen
und die Augen der Sterne, weil sie der Morgen zudrückt. Die
schönsten Augenblicke dürfen nicht verweilen und dürfen niemals
wiederkehren.
Weil sie unfaßbar, scheinbar flüchtig, nie ganz auszusagen, ist die
Schönheit unser aller Sehnsucht.
Als Wunsch und Wille ist sie immer lebendig in der Natur und
im Menschen selbst und wenn wir meinen, sie zu Grabe getragen zu
haben, ersteht sie schon in den Klageliedern, die wir singen, in
dem Grabstein, den wir aufbauen, in den Blumen und dem Weih-
rauch, den wir zum Abschied darbringen.
Es gibt nicht viele Menschen, die mit Wissen und Willen Häß-
liches hervorbringen mögen, sogar dem Bösewicht schwebt ein
seiner Natur entsprechendes Ideal vor, wenn er geistig wach und
nicht vertiert ist.
Die ideale Einheit des Schönheitsbegriffes ist nicht dadurch ge-
stört, daß in ihrem Namen die verschiedensten Auffassungen sich
befehden. Wie die Liebe ruft sie zu Kampf und Tod, weil sie
zum Leben ruft.
Schön ist die weise Gelassenheit des Alters, schön die stürmische
Intoleranz der Jugend, die Empörung des Einen, die Geduld des
Anderen. Das sind alles Teilerscheinungen, gebrochene Strahlen
ein und desselben Lichts.

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