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Was ist aber bewunderns- oder liebenswert, wenn nicht die Schön-
heit?
Möge sie nun — je nach dem individuellen Temperament — ein
Ideal zarter Anmut oder schroffer Hoheit sein, der Drang nach
ihr ist unverkennbar, ob dem einzelnen Menschen nach seinen be-
sonderen Gaben die Kunst, die Religion, der Staat, die Wissen-
schaft schöpferische Kräfte zur Auslösung gibt.
Stets verlangte der Mensch vom Göttlichen die Übereinstimmung
mit dem eigenen größten Erlebnis. Die kühnsten Mystiker, die
im Innern die Ekstase geheimnisvoller Schöpferkraft erlebten, schrie-
ben dem Weltenschöpfer solche künstlerische Ekstase bei seinem
Schöpfungswerk zu. Sie erblickten darin die Erklärung und gleich-
sam die Entschuldigung dafür, daß diese Welt überhaupt erschaf-
fen wurde, wie ja auch die Ekstase bei leiblicher Zeugung in der
Betrachtung des Philosophen eine gewisse Entschuldigung ist für
das Hervorbringen neuer Geschöpfe, die leiden und sterben sollen.
Bekenner aller Zeiten antworten am entschiedensten der Kunst,
die frei sein will, und einer vorgeschriebenen Schönheit entraten.
Sie erachten, daß nur der Böse und Gemeine, demnach Gefährliche
in irgend einem Tun Gesetz und Vorschrift braucht, damit seiner
Gefährlichkeit eine Schranke gesetzt werde. Der Edle und Vor-
nehme hat das Gesetz im eigenen Herzen, auch das Gesetz der Kunst.
Was braucht er den Weisungen kleinlicher Knechte zu folgen,
wenn er die rechte Weisung von der Herrin selbst empfangen und
ihren mächtigen Siegelring am Finger trägt?
Äußerlich ist die Schönheit wohl eine Teilerscheinung und kann
gar nicht anders als durch den Gegensatz des Unschönen oder des
nicht mehr, vielleicht auch des noch nicht Schönen empfunden
werden.
Wenn der Tag immer währte, hieße er nicht Tag, und wir könn-
ten sein Licht nicht mehr mit dem Gefühl einschätzen, das wir
dem Licht entgegenbringen. Die Andacht, die der Schönheit ge-
zollt werden muß, nährt sich zum guten Teil von der Wehmut
über das Flüchtige ihrer sichtbaren Erscheinung, über ihr langsames
Aufgehen und schnelles Versinken.
Auch das Schöne muß sterben. Aber was wäre schön für uns
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