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Glück, Heinrich; Cohn, William [Editor]
Die Kunst des Ostens (Band 8): Die christliche Kunst des Ostens — Berlin: Cassirer, 1923

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https://doi.org/10.11588/diglit.73316#0010
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VI

EINFÜHRUNG

Beide Welten stehen einander gegenüber und durchdringen einander. Wir
waren gewohnt nur das eine zu sehen, wie die westliche antike Kultur seit
ihrer großen Expansion unter Alexander dem Großen den Osten durchsetzte.
Wir haben anderseits wohl auch erkannt, daß die Güter der altorientalischen
Hochkulturen, deren Luxus, aber auch deren Kulte eine Aufnahme in der west-
lichen Kultursphäre erfuhren, um dort der veräußerlichten Lebensführung als
Ersatz für die innere Leere zu dienen. Aber wir müssen uns auch vor Augen
halten, daß jene neuen Völker des Ostens nicht mit leeren Händen kamen.
Freilich nicht mit den Gütern von Hochkulturen, mit ausgebildeten geistigen
und künstlerischen Systemen. Aber mit der starken, wenn auch naiven Geistig-
keit von Völkern, denen noch die sagenbildende Schöpferkraft innewohnt, denen
tieferlebte Symbole gestaltliche Naturbilder ersetzen, denen die Umwelt noch
Rätsel und Wunder, nicht wohlgeordnetes unfruchtbares Wissen ist. Darin kam
aber jene jugendliche Geistigkeit der veräußerlichten westlichen Hochzivilisation
entgegen. Denn wenn die Erkenntnis bis zu jenem Punkte gediehen ist, wo sie
im Bewußtwerden der Dinge selbst nicht mehr Befriedigung findet, wo sie,
sich über sich selbst stellend, ihrer Genzen bewußt wird, dann wird wieder das
Sehnen wach, die Welt als Wunder zu sehen, statt zu wissen zu glauben. Dieses
Sehnen kann aber weder die Rückschau in die eigene vergangene Kindheit,
noch können es die Geheimnisse erstorbener Fremdkulturen erfüllen, den Schrei
nach Erlösung kann nur ein starkes, kindlich Neues befriedigen.
So entstand im Grenzbereiche der beiden Kultursphären am Jordan das
Christentum als die Erlösung für den Westen, fußend auf dem volkstümlichen
Wunderglauben des Ostens. Und eben dadurch war es an keinen einheitlichen
Kulturboden gebunden und verbreitete sich nach beiden Richtungen. Im Osten
drang es über den Euphrat nach Persien, wo die persische Volksreligion des
Mazdaismus den Boden vorbereitet, ja zum Teil als Grundlage seiner ideellen
Entstehung gedient hatte, Nestorianer und Manichäer trugen es weiter nach
Zentralasien, und dann finden wir es — u. a. belegt durch die 781 datierte Stele
von Singanfu (Abb. 1) — in China. Wie dort dieses Kunstdenkmal die An-
passung an die Formen des ostasiatischen Kulturbodens erkennen läßt, so
hat sich das Christentum, wo immer es die mannigfach differenzierten
Kulturgebiete des Ostens oder des Westens betrat, den verschiedenen
Grundlagen angepaßt. Die frühe Trennung in Nationalkirchen ist dafür das
äußere Zeichen.
 
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