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Glück, Heinrich; Cohn, William [Hrsg.]
Die Kunst des Ostens (Band 8): Die christliche Kunst des Ostens — Berlin: Cassirer, 1923

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https://doi.org/10.11588/diglit.73316#0072
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VENEDIG UND SIZILIEN

so hat dies auf den Gesamtcharakter kaum einen Einfluß. So mögen die
ornamental stilisierten Baumtypen in den Bildern der Erschaffung und des Sünden-
falls (Tafel 103) jener ornamental heraldischen im Islam gebräuchlichen Art ent-
sprechen, wie sie schon während des Bilderstreites in Byzanz Einfluß genommen
zu haben scheint und von der ein prächtiges Beispiel noch in dem Zimmer
Rogers 11. im Königsschlosse zu Palermo erhalten ist (Tafel 97). Die Beobachtung
des momentanen seelischen Affektes aber, wie er in den Gesichtern der Stamm-
eltern (Tafel 103) oder in der Schilderung der Blindheit des Paulus (Tafel 104)
erscheint, mag auf Rechnung des Abendländischen gesetzt werden. So läßt auch
die Kuppelform des Gebäudes auf Tafel 105 die Beobachtung der heimischen,
von den Sarazenen her geläufigen Bauweise erkennen, wie denn auch die
Ornamentik des Taufbeckens und der Bildumfassungen islamisierende Züge trägt.
Aber all diese Einzelheiten stören nicht den großen einheitlichen Zug der Kom-
positionen, sei es der erzählenden Legendenbilder der Palastkapelle (Tafeln 102,
104/5) oder der stärker ornamental stilisierten repräsentativen Festbilder und
Ikonen der Martorana (Tafeln 98—100), oder des mystischen Idealismus in Cefalü
(Tafel 101). Die höchste Leistung dieser Kunst ist der über der thronenden
Maria in der Apsiskuppel des Domes von Monreale (Tafeln 106, 107) weithin
wuchtende Allherrscher. Mit der großen, den Apsisbogen voll ausnützenden
Gebärde scheint er den Kirchenraum, die Welt zu umspannen. Überirdisch fern
ist die segnende Rechte erhoben, um die in schwerem Fluß der Mantel gleitet.
Die Linke hält das geöffnete Buch mit den Zeilen „Ich bin das Licht der Welt,
wer mir folgt, wandelt nicht in Finsternis". Unnahbarkeit und doch Erden-
schwere sprechen aus dem majestätischen, lockenumwallten Antlitz, dessen Züge
nach den strengen Gesetzen des Ideals geformt und doch das ganze Schicksal
einer persönlichen Welt in sich tragen. Dies ist die Gestaltung des fleisch-
gewordenen Wortes, der Gott-Herrscher als Mensch-Erlöser. Vor solchem
Bild mußte der vielgestaltigen umgebenden Welt, Osten und Westen, Norden
und Süden, nicht die Form der religiösen Anschauung, sondern die Macht des
Glaubens Erlebnis werden.
 
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