Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Göbel, Heinrich
Wandteppiche (I. Teil, Band 1): Die Niederlande — Leipzig, 1923

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.12244#0137
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Deutung

ein Maulwurf, der Waffenrock trägt den Kopf eines Eichhorns. Entsprechend ist die
Darstellung der übrigen Laster. Ira reitet auf einem Pferde mit Kuhfüßen, der selt-
samen Wiedergabe eines Kamels — super camelum —, die Helmzier zeigt einen Vogel,
das Wappenschild den Hundekopf, der ritterliche Rock einen Ochsenschädel. Der
Neid hat den Drachen als Reittier, den Bienenkorb als Helmschmuck, die Fledermaus
als Wappenschild, die Schlange als Rockzier. Die Trägheit trottet auf einem Esel,
auf dem Helme hockt ein Affe, ein Ochsenkopf ziert den Schild, ein Leopardenhaupt
den Rock. Die Unmäßigkeit (Gula) schließlich sitzt auf einem sprungbereiten, löwen-
artigen Ungetüm — „sedet super quoddam animal quod dicitur tacus" —, die Em-
bleme sind Fuchs, Fisch und Pantherkopf. Die Tugenden sind in der gleichen Weise
behandelt. Ein Tier mit Pferdeleib und Vogelklauen trägt Humilitas — et sedit super
pancham —, auf dem Helme prangen drei Rebenblätter, als Sinnbilder dienen zwei
gekreuzte Leitern und ein Vogelkopf. Für die Keuschheit wird sinngemäß das Ein-
horn als Reittier gewählt, als Abzeichen dienen die Dreililienkrone, das Wolfshaupt
und ein Engelskopf. Die Milde (Largitas) reitet auf dem Ziegenbock und wählt eine
mit Edelsteinen besetzte Krone, den Vogel „Caladrius" und einen Storchenkopf als
Sinnbilder (75). Patientia reitet auf einem anatomisch wenig liebevoll behandelten Ele-
fanten, der einem fetten Dachs ähneln würde, wenn nicht ein riesiger trompetenartig
erweiterter Rüssel jeden Irrtum ausschlösse. Die Helmzier ist der Schwan, das Wappen
der Hundekopf, auf dem Rocke zeigt sich das Haupt eines Schafes. Caritas sitzt auf
einem hirschartigen Getier — super orasmum — und führt den Pelikan, ferner einen
nicht näher zu definierenden Vogel und einen seltsam verzerrten Menschenkopf als
Embleme. Devotio ist mit einem ziegenbockartigen Wesen — quod dicitur campolum —,
der Nachtigall und dem Phönix ausgestattet. Abstinentia schließlich wird mit dem Hirsch,
einem Rabennest, einem Hundekopf und einer Schlange bedacht.

Die Embleme sind von nicht zu unterschätzender Bedeutung; die Schrift Meister Got-
frieds von Vorau diente mehr als einer Folge als mittelbarer Leitfaden. Ein deutsches
Rückenlaken im Regensburger Rathause stellt den Kampf der Tugenden und Laster
unter starker Anlehnung an unser Manuskript dar (Abb. 60).

Die Embleme der Laster sind in den meisten Fällen beibehalten, die der Tugenden
weichen nicht unerheblich ab. Der wesentlichste Unterschied liegt darin, daß nur die
Laster zu Pferde erscheinen, die Tugenden kämpfen als schwergewappnete Ritter zu
Fuß, Standarten tragen ihre Abzeichen. Wahrscheinlich waren weniger ikonographische
Gründe, als Platzmangel — für das Rückenlaken stand wahrscheinlich nur eine genau
begrenzte Fläche zur Verfügung — die Ursache dieser Anordnung.

Es führt zu weit, die Sinnbilder, die in der Mehrzahl auf die uralte Bestiarienliteratur
zurückgehen, eingehender zu erklären. Um die krausen Gedankengänge zu illustrieren,
genügt ein charakteristisches Beispiel. Wählen wir den Geiz. Auf dem Rücken hängt
der schwere Geldbeutel. Das Motiv ist leicht zu deuten, es ist zugleich das schänd-
liche Attribut des Judas Ischariot. Das Reittier ist der Oryx. Das sagenhafte afrika-
nische Tier wird wie der geizige Mensch, der alles an sich zu raffen sucht, von einer
unersättlichen Trinkgier verzehrt. Das Eichhörnchen im Wappenschild vertritt den
gleichen Gedanken. Die alten Tierbücher behaupten, das Eichkätzchen sei von so
schmutzigem Geize befangen, daß es zu Winters Beginn sein Weibchen aus der Höhle
jage, um allein alle angehäuften Vorräte aufzehren zu können. Der Maulwurf sammelt
in wilder Gier alle Dinge, die ihm dienlich zu sein scheinen, ohne daß er, der Blinde,
irgendwie Freude oder Genuß empfinden kann. Weniger leicht zu erklären ist der
Einhornkopf. Das Einhorn gilt in der Regel als das Symbol der Keuschheit. Nach
dem Physiologus können die Jäger das Tier nicht bezwingen, es flüchtet in den Schoß
einer reinen Jungfrau, wird nun wehrlos und den Verfolgern preisgegeben. Das Ein-
horn ist einsam und wenig gesellig. Wahrscheinlich liegt in der letzten Eigenart die
Deutung. Auch der Geizige flieht seine Mitmenschen und bleibt mit dem zusammen-
gerafften Mammon allein.

87
 
Annotationen