Deutung
Die bekannte Reihe der «Dame mit dem Einhorn" schließt sich dem Ideengange an.
Am klarsten verkörpert sich das Prinzip in dem Behänge der Folge, in dem die Domina
das Banner der Le Viste, der Herren de Fresne, trägt. Rechts und links wachen als
Wappentiere Löwe und Einhorn mit dem umgehängten Schilde des Geschlechts. Der
Palisaden- oder Flechtzaun, der den «verger d'honneur" umschließt, ist nur schwach
durch kleine Pfähle und einen winzigen Wall angedeutet. Die Dame im Mittelfelde,
zu der sich bisweilen eine Dienerin gesellt, gibt sich verschiedenen Beschäftigungen
hin, sie spielt auf der Orgel, oder schmückt sich mit reichen Ketten und Gehängen.
Ob diesem Gebahren eine besondere Bedeutung beizumessen ist, erscheint recht zweifel-
haft. Wahrscheinlich dienen die kleinen Szenen lediglich dem Zwecke, den Darstel-
lungen Reichtum und Mannigfaltigkeit zu verleihen; höfisch pantomimische Veran-
staltungen lieferten das Vorbild. Ein Abenteurerroman aus dem ersten Drittel des
14 Jahrhunderts, wLe Romans de la dame a la lycorne et du beau chevalier", schildert
das Werben der Ritterschaft um die Tochter des Königs von Friesland; <(dieu d'amour"
verleiht der Spröden ob ihrer Schönheit, Anmut und Keuschheit das Einhorn als Wappen-
tier und den Namen „La Blanche Dame a la Lycorne" (93).
Der ganze, mit den seltsamsten Erlebnissen durchsetzte Roman gibt keinen Anhalt
zu irgendwelchen Beziehungen mit der erörterten Folge, es sei denn, daß man den
Löwen mit dem „Beau Chevalier au Lyon", der die Hauptrolle in dem langatmigen
Opus spielt, in Verbindung bringen will.
Gaignieres erwähnt übrigens einen ähnlichen Teppich. Auf blumigem Grunde sitzt
eine Dame mit hohem Hennin; sie hält im Schöße das Einhorn. Neben ihr lehnt ein
Schild mit dem Wappen Karls IL, des Kardinals von Bourbon (7 1488), von einem
Kreuze gestützt. Die Bordüre trägt das Wappen des Hauses und den Wahlspruch
„Esperance".
Auch hier tritt die Dame mit dem Einhorn, in Anlehnung an das bekannte Madonnen-
motiv, — das Einhorn verkörpert den fleischgewordenen Christus — lediglich als deko-
ratives Moment auf.
Das 16. Jahrhundert.
Verhältnismäßig spät halten die in Italien zu neuem Leben erwachten Ideen der
antiken Welt in Nordfrankreich und den burgundischen Landen ihren Einzug; nur
langsam passen sich Kunst und Kunstgewerbe der ungewohnten Formensprache an.
Eine innige Verschmelzung des Konstruktionsprinzipes der Renaissance mit den über-
lieferten gotischen Schmuckformen geht vorauf, ehe eine reinliche Scheidung erfolgt.
Der eindringenden Welt der Antike — wohlverstanden im Sinne der italienischen
Renaissance und nicht in der Auffassung der Zeit Philipps des Guten — setzt der
Wandteppich noch lange den schärfsten Widerstand entgegen.
Die Bildwirkerei bleibt auch im 16. Jahrhundert ein rein höfisches Erzeugnis, das
sich von den großen Fragen, die die Massen erregen, zumeist fernhält. Die Motive,
seien sie weltlicher oder geistlicher Art, bewegen sich nach einem Ziele hin, den Herrn
des Himmels und den weltlichen Fürsten zu verherrlichen, seinen Ruhm weithin zu
verkünden.
Die aufständische Bewegung, die das Reich des letzten Burgunderherzogs nach seinem
gewaltsamen Ende vor den Mauern von Nancy so mächtig schüttelt, daß die Lande
der jungen Maria auseinanderzufallen drohen, ist letzten Endes kein Auflehnen gegen
das angestammte Herrscherhaus, sondern lediglich ein antiquierter und erfolgloser
Protest gegen die absolutistischen Gelüste Herzog Karls, in erster Linie die Angst vor
dem Verluste größerer oder kleinerer städtischer Privilegien. Die Bewegung bricht
an dem inneren Zwiespalt zusammen. Der gleiche Prozeß, die Überleitung des selbst-
herrlichen Adels zu einem dem Könige dienstbaren Hofschranzentum, nimmt in dem
Frankreich Ludwigs XII. und seiner Nachfolger unaufhaltsamen Fortgang.
99
Die bekannte Reihe der «Dame mit dem Einhorn" schließt sich dem Ideengange an.
Am klarsten verkörpert sich das Prinzip in dem Behänge der Folge, in dem die Domina
das Banner der Le Viste, der Herren de Fresne, trägt. Rechts und links wachen als
Wappentiere Löwe und Einhorn mit dem umgehängten Schilde des Geschlechts. Der
Palisaden- oder Flechtzaun, der den «verger d'honneur" umschließt, ist nur schwach
durch kleine Pfähle und einen winzigen Wall angedeutet. Die Dame im Mittelfelde,
zu der sich bisweilen eine Dienerin gesellt, gibt sich verschiedenen Beschäftigungen
hin, sie spielt auf der Orgel, oder schmückt sich mit reichen Ketten und Gehängen.
Ob diesem Gebahren eine besondere Bedeutung beizumessen ist, erscheint recht zweifel-
haft. Wahrscheinlich dienen die kleinen Szenen lediglich dem Zwecke, den Darstel-
lungen Reichtum und Mannigfaltigkeit zu verleihen; höfisch pantomimische Veran-
staltungen lieferten das Vorbild. Ein Abenteurerroman aus dem ersten Drittel des
14 Jahrhunderts, wLe Romans de la dame a la lycorne et du beau chevalier", schildert
das Werben der Ritterschaft um die Tochter des Königs von Friesland; <(dieu d'amour"
verleiht der Spröden ob ihrer Schönheit, Anmut und Keuschheit das Einhorn als Wappen-
tier und den Namen „La Blanche Dame a la Lycorne" (93).
Der ganze, mit den seltsamsten Erlebnissen durchsetzte Roman gibt keinen Anhalt
zu irgendwelchen Beziehungen mit der erörterten Folge, es sei denn, daß man den
Löwen mit dem „Beau Chevalier au Lyon", der die Hauptrolle in dem langatmigen
Opus spielt, in Verbindung bringen will.
Gaignieres erwähnt übrigens einen ähnlichen Teppich. Auf blumigem Grunde sitzt
eine Dame mit hohem Hennin; sie hält im Schöße das Einhorn. Neben ihr lehnt ein
Schild mit dem Wappen Karls IL, des Kardinals von Bourbon (7 1488), von einem
Kreuze gestützt. Die Bordüre trägt das Wappen des Hauses und den Wahlspruch
„Esperance".
Auch hier tritt die Dame mit dem Einhorn, in Anlehnung an das bekannte Madonnen-
motiv, — das Einhorn verkörpert den fleischgewordenen Christus — lediglich als deko-
ratives Moment auf.
Das 16. Jahrhundert.
Verhältnismäßig spät halten die in Italien zu neuem Leben erwachten Ideen der
antiken Welt in Nordfrankreich und den burgundischen Landen ihren Einzug; nur
langsam passen sich Kunst und Kunstgewerbe der ungewohnten Formensprache an.
Eine innige Verschmelzung des Konstruktionsprinzipes der Renaissance mit den über-
lieferten gotischen Schmuckformen geht vorauf, ehe eine reinliche Scheidung erfolgt.
Der eindringenden Welt der Antike — wohlverstanden im Sinne der italienischen
Renaissance und nicht in der Auffassung der Zeit Philipps des Guten — setzt der
Wandteppich noch lange den schärfsten Widerstand entgegen.
Die Bildwirkerei bleibt auch im 16. Jahrhundert ein rein höfisches Erzeugnis, das
sich von den großen Fragen, die die Massen erregen, zumeist fernhält. Die Motive,
seien sie weltlicher oder geistlicher Art, bewegen sich nach einem Ziele hin, den Herrn
des Himmels und den weltlichen Fürsten zu verherrlichen, seinen Ruhm weithin zu
verkünden.
Die aufständische Bewegung, die das Reich des letzten Burgunderherzogs nach seinem
gewaltsamen Ende vor den Mauern von Nancy so mächtig schüttelt, daß die Lande
der jungen Maria auseinanderzufallen drohen, ist letzten Endes kein Auflehnen gegen
das angestammte Herrscherhaus, sondern lediglich ein antiquierter und erfolgloser
Protest gegen die absolutistischen Gelüste Herzog Karls, in erster Linie die Angst vor
dem Verluste größerer oder kleinerer städtischer Privilegien. Die Bewegung bricht
an dem inneren Zwiespalt zusammen. Der gleiche Prozeß, die Überleitung des selbst-
herrlichen Adels zu einem dem Könige dienstbaren Hofschranzentum, nimmt in dem
Frankreich Ludwigs XII. und seiner Nachfolger unaufhaltsamen Fortgang.
99