Deutung
Theodosius. Die in dem Lemaireschen Opus gleichfalls erwähnten französischen Fürsten
Karl VII., Karl VIIL, Johann von Bourbon und Robert, Graf von Clermont, fehlen natur-
gemäß in dem Wandteppiche, der um 1520 in einer Brüsseler Manufaktur für das
heimische Herrscherhaus entstand. Die Arenbergsche Wiederholung fügt einen bart-
losen Abraham den Helden hinzu. Unter den Frauen bemerken wir u. a. Semiramis,
Penelope, Esther, Judith, die Kaiserin Helena, die heilige Elisabeth, Florence de Home,
Lucretia, Thomiris, Beibora (die Prophetin Deborah), die Königin von Saba und Asia.
Der Autor versagt, wie gewöhnlich, bei der Aufzählung berühmter Damen; die Phan-
tasie ersetzt das Wissen. Die von Meister Jehan erwähnte Marguerite de Provence
fehlt wiederum.
Die Handlung kommt in Bewegung. Neue Anwärter erscheinen und ersuchen um
Aufnahme. „Natur" — links — und „Heilige Schrift" — rechts — schweben als ge-
flügelte Frauengestalten über den beiden Eingangstreppen; Posaunensignale ertönen.
Der Schreiber des Gerichtes beginnt mit dem Verhandlungsprotokoll. Groß ist die
Zahl der Anwärter, klein die der Auserwählten. Der Vordergrund wimmelt von
mythologischen Gestalten, die vergebens sich bemühen, den Saal der Ehren zu erreichen
und stellenweise den Eintritt unter Anwendung von Gewalt zu erzwingen suchen.
Markant wirkt die Gestalt des reich gekleideten „Caius Caligula". Nero, die Kaiser-
krone auf dem Haupte, bricht unter der gegen die Empore gelehnten Leiter zusammen.
Julian Apostata stirbt, die Lanze in der Brust; Crudelitas, ein bärtiger Krieger, versucht
Tullia über die hohe Saalbrüstung zu heben; der kopflose Rumpf des Holofernes
wälzt sich im Blute. Die Einzelepisoden sind außerordentlich reich; eine zu eingehende
Schilderung sprengt den Rahmen der Abhandlung. Wir finden unter den Verworfenen
Joram, Jerobeam, Paris und Helena, Tarquinius, Sisera, Mohammed, den Magier Simon,
Klytaimnestra (Clitinestra), Danae, Jesabel, Niobe, Marcus Antonius, Sardanapal mit
der Spindel in den Händen, Dionysius von Syracus und andere mehr.
Die Zahl der Aufgenommenen ist winzig klein. Es gehen mit Ehren ein u. a. Titus,
Likurg, Sertorius, der römische Feldherr, und „Asarias" (Asarja), der eine der drei
Männer im feurigen Ofen; in der Arenberg'schen Version Sertorius, Marcellus, König
Josias und Phocas — gemeint ist wohl der fromme oströmische Kaiser Nikephoros II.
Phokas.
Die Namen sind aus allen möglichen zeitgenössischen Quellen zusammengetragen;
die Dichtungen aus dem Ideenkreise des Goldenen Vließes zählen in reicher Fülle
Helden und Heldinnen auf, den Rest lieferte die neu-antike Literatur und das Alte
Testament.
Die Folge bildet die Uberleitung zu einer der beliebtesten Allegorien des 16. Jahr-
hunderts, zu dem um sein Seelenheil kämpfenden Menschen. Die Literatur ist außer-
ordentlich reich; nur wenige Skribenten des 16. Säkulums haben der Versuchung
widerstehen können, das dankbare Gebiet zu beackern, dessen Ursprung bis in das
14 Jahrhundert zurückreicht. Das Thema war zudem im höchsten Maße aktuell;
katholische und protestantische Literaten suchten sich bei dem Kampfe der Tugenden
und Laster, der aus dem Erdenpilger das hartumworbene Streitobjekt der bösen und
guten Seelenkräfte macht, den Rang abzulaufen. Die Reformation, die literarisch
zweifelsohne mit großem Geschick und Energie vertreten wurde, läßt eine Zeitlang,
wenigstens in Deutschland, Flandern und Frankreich, die Vorliebe für die römischen
und griechischen Schrifsteller erlahmen. Die Bibelübersetzung Martin Luthers schiebt
das Alte Testament und mit ihm den starren Jehovaglauben in den Vordergrund. Die
Schriften des Volkes Israel werden zum Brennpunkt des öffentlichen Interesses, zum
Stoff, der alle Gemüter erfüllt. Die wie Pilze aus der Erde schießenden Druckereien
sorgen dafür, daß die gespannte Teilnahme nicht allzu schnell erlischt. Kein Jahrhundert
schuf eine so endlose Reihe von Bildteppichen, die ihre Motive dem Alten Testamente
entnehmen, wie das 16. Säkulum.
Die unendliche Fülle der didaktisch-moralisierenden Schriften — die Mehrzahl dieser
Erzeugnisse bringt keine überwältigend neuen Gedanken, viele bauen sich auf der
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Theodosius. Die in dem Lemaireschen Opus gleichfalls erwähnten französischen Fürsten
Karl VII., Karl VIIL, Johann von Bourbon und Robert, Graf von Clermont, fehlen natur-
gemäß in dem Wandteppiche, der um 1520 in einer Brüsseler Manufaktur für das
heimische Herrscherhaus entstand. Die Arenbergsche Wiederholung fügt einen bart-
losen Abraham den Helden hinzu. Unter den Frauen bemerken wir u. a. Semiramis,
Penelope, Esther, Judith, die Kaiserin Helena, die heilige Elisabeth, Florence de Home,
Lucretia, Thomiris, Beibora (die Prophetin Deborah), die Königin von Saba und Asia.
Der Autor versagt, wie gewöhnlich, bei der Aufzählung berühmter Damen; die Phan-
tasie ersetzt das Wissen. Die von Meister Jehan erwähnte Marguerite de Provence
fehlt wiederum.
Die Handlung kommt in Bewegung. Neue Anwärter erscheinen und ersuchen um
Aufnahme. „Natur" — links — und „Heilige Schrift" — rechts — schweben als ge-
flügelte Frauengestalten über den beiden Eingangstreppen; Posaunensignale ertönen.
Der Schreiber des Gerichtes beginnt mit dem Verhandlungsprotokoll. Groß ist die
Zahl der Anwärter, klein die der Auserwählten. Der Vordergrund wimmelt von
mythologischen Gestalten, die vergebens sich bemühen, den Saal der Ehren zu erreichen
und stellenweise den Eintritt unter Anwendung von Gewalt zu erzwingen suchen.
Markant wirkt die Gestalt des reich gekleideten „Caius Caligula". Nero, die Kaiser-
krone auf dem Haupte, bricht unter der gegen die Empore gelehnten Leiter zusammen.
Julian Apostata stirbt, die Lanze in der Brust; Crudelitas, ein bärtiger Krieger, versucht
Tullia über die hohe Saalbrüstung zu heben; der kopflose Rumpf des Holofernes
wälzt sich im Blute. Die Einzelepisoden sind außerordentlich reich; eine zu eingehende
Schilderung sprengt den Rahmen der Abhandlung. Wir finden unter den Verworfenen
Joram, Jerobeam, Paris und Helena, Tarquinius, Sisera, Mohammed, den Magier Simon,
Klytaimnestra (Clitinestra), Danae, Jesabel, Niobe, Marcus Antonius, Sardanapal mit
der Spindel in den Händen, Dionysius von Syracus und andere mehr.
Die Zahl der Aufgenommenen ist winzig klein. Es gehen mit Ehren ein u. a. Titus,
Likurg, Sertorius, der römische Feldherr, und „Asarias" (Asarja), der eine der drei
Männer im feurigen Ofen; in der Arenberg'schen Version Sertorius, Marcellus, König
Josias und Phocas — gemeint ist wohl der fromme oströmische Kaiser Nikephoros II.
Phokas.
Die Namen sind aus allen möglichen zeitgenössischen Quellen zusammengetragen;
die Dichtungen aus dem Ideenkreise des Goldenen Vließes zählen in reicher Fülle
Helden und Heldinnen auf, den Rest lieferte die neu-antike Literatur und das Alte
Testament.
Die Folge bildet die Uberleitung zu einer der beliebtesten Allegorien des 16. Jahr-
hunderts, zu dem um sein Seelenheil kämpfenden Menschen. Die Literatur ist außer-
ordentlich reich; nur wenige Skribenten des 16. Säkulums haben der Versuchung
widerstehen können, das dankbare Gebiet zu beackern, dessen Ursprung bis in das
14 Jahrhundert zurückreicht. Das Thema war zudem im höchsten Maße aktuell;
katholische und protestantische Literaten suchten sich bei dem Kampfe der Tugenden
und Laster, der aus dem Erdenpilger das hartumworbene Streitobjekt der bösen und
guten Seelenkräfte macht, den Rang abzulaufen. Die Reformation, die literarisch
zweifelsohne mit großem Geschick und Energie vertreten wurde, läßt eine Zeitlang,
wenigstens in Deutschland, Flandern und Frankreich, die Vorliebe für die römischen
und griechischen Schrifsteller erlahmen. Die Bibelübersetzung Martin Luthers schiebt
das Alte Testament und mit ihm den starren Jehovaglauben in den Vordergrund. Die
Schriften des Volkes Israel werden zum Brennpunkt des öffentlichen Interesses, zum
Stoff, der alle Gemüter erfüllt. Die wie Pilze aus der Erde schießenden Druckereien
sorgen dafür, daß die gespannte Teilnahme nicht allzu schnell erlischt. Kein Jahrhundert
schuf eine so endlose Reihe von Bildteppichen, die ihre Motive dem Alten Testamente
entnehmen, wie das 16. Säkulum.
Die unendliche Fülle der didaktisch-moralisierenden Schriften — die Mehrzahl dieser
Erzeugnisse bringt keine überwältigend neuen Gedanken, viele bauen sich auf der
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