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Göbel, Heinrich
Wandteppiche (I. Teil, Band 1): Die Niederlande — Leipzig, 1923

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https://doi.org/10.11588/diglit.12244#0255
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D e u t u n g

Sie erzählt, wie einst Gott-Vater auf Grund einer Visitation — bei Melanchthon handelt
es sich um eine Katechisation — den Kindern Adams und Evas die ihnen gebührenden
Berufe zuteilt. Das eine wird König, das zweite Priester, das dritte Arbeiter usw.

Das Glück lächelt Homo; zufrieden wird er trotz alledem nicht. Die Gaben, die
ihm Frau Fortuna in den Schoß geschüttet, erscheinen ihm gering. Im vierten Teppich
steht der Mensch in bittender Haltung vor der Allegorie des Glückes. Vier Amoretten,
Binden vor den Augen, behandeln die Göttin in der üblichen, etwas rauhbeinigen Weise.

Der eine Putto, das Symbol der vom Glück verliehenen Herrschergewalt, schlägt
mit dem Szepter auf die Göttliche ein; der zweite, das Sinnbild des literarischen
Ruhms, benutzt die Feder als Waffe, wütend schleudert er einen Folianten zur Erde;
der dritte schwingt einen riesigen Geldbeutel. Gott Amor beschießt in den Lüften
Fortuna mit seinen Pfeilen. Das Glück hat dem Menschen Macht, Ruhm, Reichtum
und Liebe geschenkt. Er bleibt unersättlich; zornig wendet sich Fortuna von ihm ab.
Die Zeit der Umkehr beginnt. Homo erkennt die Torheit seiner Handlungsweise. Er
vertraut sich Mäßigung, göttlicher Weisheit und Geduld, den rechten Führerinnen, an.
Der Erfolg stellt sich bald ein. In dem nun folgenden Teppich liegt Fortuna zer-
schmettert am Boden; die vier ungeratenen Putten nehmen Reißaus, so schnell sie
können. Die Amorette mit dem Geldsack kommt am schlechtesten vorwärts; sie er-
ledigt sich schließlich des hinderlichen Attributes. Der Anfang ist gemacht, Homo hat
nun die Pflicht, auf dem begonnenen Wege weiter zu verharren. Die Gottheit er-
scheint, allerdings nicht in Gestalt der Dreieinigkeit, sondern in antik-moderner Auf-
machung. Jupiter, die Krone auf dem Haupte, den Blitz in der Hand, wird von der
gewappneten Minerva begleitet. Der olympische Gott überträgt Frau Temperantia die
künftige Leitung des Menschen. Homo legt mit einem Seitenblick, der halb Bereit-
willigkeit, halb Mißvergnügen verrät, seine Hand in die der Mäßigung, die wiederum
Zaum und Peitsche als Attribute führt. Der Mensch wird alt; er naht sich der Grenze
des Lebens. Der fünfte Teppich eröffnet den Blick in das Krankenzimmer (Abb. 176).
Homo liegt mit ergebungsvoller Miene im großen Himmelbett. Vor ihm sitzt Mäßigung,
neben ihr weilt Erkenntnis, in der Hand den von der Schlange umwundenen Spiegel.
Kummer wandelt, auf einen Krückstock gestützt, durch die Stube. Die Deutung der
letzten Figur ist zweifelhaft, möglicherweise kommt auch die Allegorie der „Guten Werke"
in Frage, eine Gestalt, die sich häufig in den zeitgenössischen Moralitäten findet. Es
sei nur an das einst außerordentlich beliebte Spiel „Jedermann" erinnert, das vor
einigen Jahren im Berliner Großen Schauspielhaus eine Auferstehung erlebte. Der guten
Werke des Sünders sind nur wTenige, mühsam humpelt die Allegorie am Krückstock.

Im Vordergrunde treibt Zeit in der typischen Gestalt Saturns — der geflügelte
Greis führt die Sense und das um die Schulter geschlungene Tierkreisband als Em-
bleme — die Freuden des Lebens aus dem Hause des Sterbens. Gefräßigkeit, ein Mann
in den mittleren Jahren, futtert in aller Ruhe weiter; die Allegorie des Weines hebt
mit abwehrender Bewegung den gefüllten Pokal; Musik schlägt das Tamburin;
Liebe ist wiederum in dem protestierenden kleinen Amor verkörpert. Das nächste,
wohl charakteristischste Stück der Reihe fehlt in der königlich spanischen Sammlung.
Ein glücklicher Zufall hat den Teppich in deutschem Privatbesitz erhalten (Abb. 177).
Mors ist Sieger; der Mensch mit all seinen guten und bösen Eigenschaften ist ausgelöscht.
Über ein Leichenfeld, in dem trotz der Kleinheit der Einzeldarstellungen die verschie-
denen typischen Standesvertreter — Papst, König u. a. — zu unterscheiden sind,
schreitet der Tod als Gerippe. Allegorische Gestalten entweichen in wilder Hast. Die
Macht — ein Fürst in reichem Brokatmantel, von einem Gewappneten begleitet —
wendet mit Grausen das gekrönte Haupt von dem Vernichter. Jede Flucht ist ver-
gebens. Auf dem Boden winden sich sterbend die Allegorien der „sieben freien Künste".
Wir erblicken Mutter Philosophia, eine Frauengestalt mit mehreren Brüsten, Arithmetik,
ein noch rüstiger Mann — die Rechentafel dient als Emblem —, eine gekrönte Königin,
wahrscheinlich die Verkörperung der Musik. Auch Saturnus als Symbol der Zeit ge-
hört mit zu den Besiegten; wie im vorhergehenden Teppich deckt die Tierkreisbinde

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