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Göbel, Heinrich
Wandteppiche (I. Teil, Band 1): Die Niederlande — Leipzig, 1923

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https://doi.org/10.11588/diglit.12244#0333
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7 o u r n a i

Die Mittelpartie nimmt der Keltervorgang ein; im Vordergründe tragen Winzer in
großen Kufen die edle Frucht den Stampfern zu. Aus dem Burgtore schreiten Herr
und Herrin des Weingutes, um prüfend den Inhalt eines gefüllten Tragkorbes zu
mustern. Vor ihnen trippelt das kleine, schon ganz als „grande dame" gekleidete
Töchterchen. Reizvoll wirkt eine Miniaturszene des Hintergrundes. Holzschläger be-
packen einen Esel mit den zusammengeschnürten Kloben; eine Frau hilft mit bei der
Arbeit.

Die Architekturen sind stilgerecht und technisch wirkungsvoll behandelt.

Einer ähnlichen Serie entstammt ein Teppich im Besitze der Pariser Kunsthandlung
Jacques Seligmann, der an Feinheit der Durchführung den Behang der Sammlung
Gaillard noch übertrifft. Die Abb. 538, die ich der Liebenswürdigkeit des Eigentümers
verdanke, macht jede weitere Erläuterung überflüssig (32).

Mit der Sammlung Gaillard kam ferner ein etwa ein Jahrzehnt früherer Teppich
zur Versteigerung, der den für die damalige Zeit hohen Preis von 10050 Franks er-
zielte (Abb. 239).

«Qui legitis flores et hominum nascencia traga.
Frigidus o pueri fugite hic latet anguis in herba"
erläutert das rechte, obere Schriftband die dargestellte Szene.

Das Fragment besitzt bei einer Höhe von 2,85 m eine Länge von 4,50 m. Rechts
beaufsichtigt eine überlebensgroß dargestellte Persönlichkeit in reichem Brokatgewande
und prächtig gestickter oder gewirkter Almoseniertasche die zahlreichen Männer und
Frauen, die am Bachufer entlang eifrig mit Pflücken beschäftigt sind. Zwei mächtige
Orangenstämme trennen die reizvolle Episode von einer Schafherde, die ohne jedes
Gefühl von Raumgröße und Perspektive wiedergegeben ist. Im Vordergrunde schar-
mutziert ein Kavalier mit der Schäferin, die Spindel und Faden hält und sich nur
schwer des stürmischen Liebhabers erwehren kann.

Zwischen den Schriftbändern prangt ein kleines Wappen mit dem verschnürten
Kardinalshut, Das viergeteilte Feld bringt in 1 und 4 den steigenden Löwen, in 2
und 3 einen goldenen, achtstrahligen Stern.

Eine besonders prächtige Folge „Bergeries" von fünf Behängen tauchte in den letzten
Jahren im New-Yorker Kunsthandel auf — Herr Dr. W. R. Valentiner stellte mir liebens-
würdigerweise die photographischen Abzüge zur Verfügung. Eine Jagdgesellschaft
zieht aus dem Tore der Burg (Abb. 240), am Bachesrande vergnügen sich verliebte
Schäfer und Schäferinnen im Spiele (Abb. 241); die Gesellschaft hält ein Picknick; zum
Klange des Dudelsacks drehen sich die Paare im Tanze (Abb. 242). Technik und Zeich-
nung bringen die Reihe mit der Carrabarrafolge in enge Beziehung.

Wie sehr die Holzhauer- und Schäferszenen den Tournaiser Bildwirkern und Pa-
tronenmalern in Fleisch und Blut übergegangen sind, zeigt die häufige Verwendung
des reizvollen Motives selbst in religiösen Darstellungen.

Die bayerische Staatssammlung besitzt einen Tournaiser Bildteppich, der die Rast
Josephs und Marias auf der Flucht nach Ägypten schildert (Abb. 243).

Sankt Joseph führt den Esel, auf dem die Madonna, das Kindchen im Arme, fast
thronend sitzt, Schäfer und Schäferinnen begrüßen die heilige Familie; ihre Pflicht-
befohlenen springen zwischen blühenden Pflanzenstauden. Im Hintergrunde erhebt
sich eine Brunnensäule; Orangenbäume umrahmen die Szene. Links schlägt ein Bauer
das Korn, auf dem Haupte die bekannte Ohrenkappe. Kriegsknechte nahen sich, um
nach den Flüchtigen Rückfrage zu halten. Die Episode stellt eine bekannte apokryphe
Schriftstelle dar. Das Stoppelfeld sproßte auf des Heilands Gebot von neuem und
trug Frucht; der Bauer konnte mit Recht sagen, seit der Kornreife sei niemand mehr
des Weges gekommen.

Hirten und Bauer scheinen unmittelbar einem der bekannten Holzhauerteppiche ent-
nommen. Die Bordüre verwertet das symmetrisch wiederholte Motiv der in den Mitten
zusammengeschnürten Blatt- und Blütenbüschel.

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