Holbein in England.
In der Kapelle des königlichen Palaſtes zu Whitehall in London war ſoeben der tägliche Früh-
gottesdienſt zu Ende. Der König Heinrich VIII. war ſchon ſeit einigen Tagen nicht erſchienen.
Er ſollte im höchſten Grade auf den Prieſter Glending zornig ſein, welcher eine dogmatiſche, von
dem Könige eigenhändig verfaßte Auseinanderſetzung über das Verhältniß des Papſtes zu
der kirchlichen Obergewalt weltlicher Fürſten nicht genau ſo vorgetragen hatte, wie die Abhandlung
lautete. Nach der bedenklichen, niedergeſchlagenen Miene des Geiſtlichen zu urtheilen, ſchien dieſer
Umſtand allerdings die Urſache des Nichterſcheinens Heinrich VIII. in der Kapelle zu ſein.
Statt des Königs gab die Königin, Anna Boleyn, durch ihr Aufſtehen den Anweſenden das
Zeichen zum Verlaſſen des Betſaals und im langen Zuge folgten ihr die Hof- und Ehrendamen.
Den Zug der Herren eröffnete der Bruder der Königin, Lord Rocheford, bis eine abenteuerliche
Geſtalt hervorſprang, eine Pritſche ſchwenkte und gravitätiſch den Platz vor dem Lord einnahm.
Es war der Narr des Königs, welchem es einfiel, die Stelle ſeines „Herrn Vetters“, Heinrich VIIL,
zu vertreten.
„Bleibt immerhin zurück, lieber Bruder“, meinte der Narr, ſich umkehrend und dem ſtolzen
Lord Geſichter ſchneidend. „Mein Vetter Heinrich läßt ſich lieber durch mich, als durch ſonſt Jemand
vertreten, am wenigſten von Euch.“
Lord Rocheford ward finſter. Er warf einen kurzen Blick auf die Königin, welche ſoeben das
Portal verließ, und ſchien in tiefe Gedanken zu verfinken.
Während die Verſammelten die breiten Treppen zu den obern Gemächern des Palaſtes hinan-
ſtiegen, welcher damals ein ganz anderes Gebäude als die jetzige Whitehall war, blieb die Königin
auf dem mit eingelegter Holzarbeit verzierten Flur ſtehen. Neben ihr befanden ſich zwei ihrer
Lieblingsdamen, Lady Margaret Everley und die franzöſiſche Gräfin de Mailleron.
Anna Boleyn war eine imponirende Geſtalt mit vollen und dennoch nicht das anmuthige Maß
überſchreitenden Formen. Von vorzüglicher Schönheit war ihr Nacken, welchen ſie nach franzöſiſcher
Sitte ſehr tief entblößt und von einem ſtehenden Spitzenkragen umgeben trug. Geiſt und
Lebensmuth ſtrahlte aus ihren blitzenden, großen Augen; ein reizendes Lächeln ſchwebte auf ihrem
Antlitze, das in ſeiner Friſche nicht auf das Alter von dreißig Jahren deutete, welches die
Königin bereits erreicht hatte. Ihr ſtarkes braunes Haar war von der Stirn emporgekämmt und
Deutſchlands Kunſtſchätze 9
In der Kapelle des königlichen Palaſtes zu Whitehall in London war ſoeben der tägliche Früh-
gottesdienſt zu Ende. Der König Heinrich VIII. war ſchon ſeit einigen Tagen nicht erſchienen.
Er ſollte im höchſten Grade auf den Prieſter Glending zornig ſein, welcher eine dogmatiſche, von
dem Könige eigenhändig verfaßte Auseinanderſetzung über das Verhältniß des Papſtes zu
der kirchlichen Obergewalt weltlicher Fürſten nicht genau ſo vorgetragen hatte, wie die Abhandlung
lautete. Nach der bedenklichen, niedergeſchlagenen Miene des Geiſtlichen zu urtheilen, ſchien dieſer
Umſtand allerdings die Urſache des Nichterſcheinens Heinrich VIII. in der Kapelle zu ſein.
Statt des Königs gab die Königin, Anna Boleyn, durch ihr Aufſtehen den Anweſenden das
Zeichen zum Verlaſſen des Betſaals und im langen Zuge folgten ihr die Hof- und Ehrendamen.
Den Zug der Herren eröffnete der Bruder der Königin, Lord Rocheford, bis eine abenteuerliche
Geſtalt hervorſprang, eine Pritſche ſchwenkte und gravitätiſch den Platz vor dem Lord einnahm.
Es war der Narr des Königs, welchem es einfiel, die Stelle ſeines „Herrn Vetters“, Heinrich VIIL,
zu vertreten.
„Bleibt immerhin zurück, lieber Bruder“, meinte der Narr, ſich umkehrend und dem ſtolzen
Lord Geſichter ſchneidend. „Mein Vetter Heinrich läßt ſich lieber durch mich, als durch ſonſt Jemand
vertreten, am wenigſten von Euch.“
Lord Rocheford ward finſter. Er warf einen kurzen Blick auf die Königin, welche ſoeben das
Portal verließ, und ſchien in tiefe Gedanken zu verfinken.
Während die Verſammelten die breiten Treppen zu den obern Gemächern des Palaſtes hinan-
ſtiegen, welcher damals ein ganz anderes Gebäude als die jetzige Whitehall war, blieb die Königin
auf dem mit eingelegter Holzarbeit verzierten Flur ſtehen. Neben ihr befanden ſich zwei ihrer
Lieblingsdamen, Lady Margaret Everley und die franzöſiſche Gräfin de Mailleron.
Anna Boleyn war eine imponirende Geſtalt mit vollen und dennoch nicht das anmuthige Maß
überſchreitenden Formen. Von vorzüglicher Schönheit war ihr Nacken, welchen ſie nach franzöſiſcher
Sitte ſehr tief entblößt und von einem ſtehenden Spitzenkragen umgeben trug. Geiſt und
Lebensmuth ſtrahlte aus ihren blitzenden, großen Augen; ein reizendes Lächeln ſchwebte auf ihrem
Antlitze, das in ſeiner Friſche nicht auf das Alter von dreißig Jahren deutete, welches die
Königin bereits erreicht hatte. Ihr ſtarkes braunes Haar war von der Stirn emporgekämmt und
Deutſchlands Kunſtſchätze 9