70 Künfler-Biographien.
Alltägliche und Wirkliche hinausgehobenes Daſein zu verleihen. Für eine Venus gilt das nackte
hingeſtreckte Weib, zu deren Füßen der junge Lautenſpieler ſitzt (Original im Fitz-William-
Muſeum zu Cambridge — alte Wiederholung in der Dresdener Galerie). Trotz des geflügelten
Liebesgottes neben ihr iſt ſie es ebenſowenig wie jene Frauengeſtalt auf dem Lager in den Uffizien zu
Florenz, die ſich darin gefällt, unverhüllt, in all ihrer Pracht der Erſcheinung dazuliegen, während
die Dienerinnen im Hintergrunde die Kleider aus der Truhe hervorſuchen. Mochte aber auch ihr
Originak wahrſcheinlich die Geliebte eines Fürſten ſein, — wie wir ſie hier erblicken, iſt ſie mehr
als das Abbild eines ſchönen Weibes, es iſt eine Apotheoſe weiblicher Schönheit überhaupt, durch
die heitere, wonnevolle Feſtlichkeit der Exiſtenz, in die ſie emporgehoben iſt, verklärt. Wohl ſpielt
die Sinnlichkeit in ſolchen Bildern ihre Rolle, aber nur ſo, wie das in der Kunſt berechtigt iſt.
Da iſt nichts von dem Abſichtlichen, Raffinirten, auf den Reiz Berechneten, wie es moderne fran-
zöſiſche Bilder ähnlichen Gegenſtands zu athmen pflegen; die ſchöne Naivetät der Auffaſſung bannt
das Alles weit zurück. Was war dem Künſtler der allegoriſche Inhalt bei ſeinem von eben-
ſolchem Geiſt erfüllten Bildern: die drei Lebensalter in der Bridgewater-Galerie zu London, die
ſogenannte himmliſche und irdiſche Liebe — von J. Burkhardt richtig als Liebe und Sprödigkeit
gedeutet — im Palazzo Borgheſe zu Rom? Auch hier nur ein ſchönheiterfülltes Daſein, Geſtalten,
die in ein goldenes Zeitalter zurückverſetzt ſcheinen, in welchem das Leben ſelber der Zweck des
Lebens iſt. Und iſt im Motiv, das ſie verbindet, etwas, das zum Nachſinnen anregt, ſo ſteigert
das nur jene Hingabe an träumeriſches Genießen, welche die ganze Stimmung des Bildes erweckt.
Gerade bei ſolchen Gemälden wirkt ein neu entdecktes Element des Künſtleriſchen beſonders
gern mit und hilft die Stimmung ausklingen zu laſſen: die Landſchaft, welche in Italien eigentlich
erſt Tizian und ſeine venetianiſchen Genoſſen um ihrer ſelbſt willen ausgebildet haben. Venedig
ſelbſt, die Inſelſtadt, bietet wenig von Dem, was den Inhalt landſchaftlicher Darſtellung ausmacht.
„Hier ſeht Ihr freilich keine grünen Auen,
. Ihr könnt Euch nicht im Duft der Roſe baden“,
nur Sonnenglanz, feuchte Seeluft und blaugrüne Waſſerfläche — aber um ſo ſtärker wacht dem
Künſtler vielleicht die Sehnſucht nach den Bäumen und Gefilden des Feſtlandes, nach dem Gebirge,
deſſen Gipfel bei klarem Wetter in der Ferne ſchimmern, auf. Die maleriſche, erhabene Wildheit
der Alpenthäler, in welchen Tizian ſeine Kindheit verlebte, wird von ihm, 2 noch romantiſcher
und phantaſtiſcher, in zahlreichen Bildern feſtgehalten.
Aber in dieſer Fähigkeit, die leibliche Schönheit, den Zauber der landſchaftlichen Natur und
die Exiſtenz des Menſchen in dieſer zu ſchildern, erſchöpft ſich die künſtleriſche Eigenthümlichkeit
Tizians nicht. Schon der Zinsgroſchen iſt ein Beleg dafür, mit welchem Geiſte er auch religiöſe.
Aufgaben zu faſſen weiß. Hier umfängt uns keine Atmoſphäre der Andacht und des Wunders.
Der Vorgang iſt in das Gebiet des rein Menſchlichen verſetzt, was ſchon Bellini erſtrebt hatte.
Aber der reinſte, erhabenſte Adel, deſſen die menſchliche Natur fähig iſt, hat in dieſem Ehriſtus
Geſtalt gewonnen, und der innerliche Sieg dieſer hohen, milden Natur über menſchliche
Beſchränktheit und Gemeinheit, das iſt der geiſtige Inhalt dieſes Werkes, welcher verkörpert iſt
mit den einfachſten Mitteln, die möglich ſind. Zwei Köpfe und zwei Hände genügen, dieſe
pſychologiſch tief gefaßte Situation zu geben, wie wenige entſchiedene Farben ausreichen, dieſe
coloriſtiſche Herrlichkeit zu entfalten. Bei aller üppigen Schönheit von Fleiſch und Goldhaar —
Alltägliche und Wirkliche hinausgehobenes Daſein zu verleihen. Für eine Venus gilt das nackte
hingeſtreckte Weib, zu deren Füßen der junge Lautenſpieler ſitzt (Original im Fitz-William-
Muſeum zu Cambridge — alte Wiederholung in der Dresdener Galerie). Trotz des geflügelten
Liebesgottes neben ihr iſt ſie es ebenſowenig wie jene Frauengeſtalt auf dem Lager in den Uffizien zu
Florenz, die ſich darin gefällt, unverhüllt, in all ihrer Pracht der Erſcheinung dazuliegen, während
die Dienerinnen im Hintergrunde die Kleider aus der Truhe hervorſuchen. Mochte aber auch ihr
Originak wahrſcheinlich die Geliebte eines Fürſten ſein, — wie wir ſie hier erblicken, iſt ſie mehr
als das Abbild eines ſchönen Weibes, es iſt eine Apotheoſe weiblicher Schönheit überhaupt, durch
die heitere, wonnevolle Feſtlichkeit der Exiſtenz, in die ſie emporgehoben iſt, verklärt. Wohl ſpielt
die Sinnlichkeit in ſolchen Bildern ihre Rolle, aber nur ſo, wie das in der Kunſt berechtigt iſt.
Da iſt nichts von dem Abſichtlichen, Raffinirten, auf den Reiz Berechneten, wie es moderne fran-
zöſiſche Bilder ähnlichen Gegenſtands zu athmen pflegen; die ſchöne Naivetät der Auffaſſung bannt
das Alles weit zurück. Was war dem Künſtler der allegoriſche Inhalt bei ſeinem von eben-
ſolchem Geiſt erfüllten Bildern: die drei Lebensalter in der Bridgewater-Galerie zu London, die
ſogenannte himmliſche und irdiſche Liebe — von J. Burkhardt richtig als Liebe und Sprödigkeit
gedeutet — im Palazzo Borgheſe zu Rom? Auch hier nur ein ſchönheiterfülltes Daſein, Geſtalten,
die in ein goldenes Zeitalter zurückverſetzt ſcheinen, in welchem das Leben ſelber der Zweck des
Lebens iſt. Und iſt im Motiv, das ſie verbindet, etwas, das zum Nachſinnen anregt, ſo ſteigert
das nur jene Hingabe an träumeriſches Genießen, welche die ganze Stimmung des Bildes erweckt.
Gerade bei ſolchen Gemälden wirkt ein neu entdecktes Element des Künſtleriſchen beſonders
gern mit und hilft die Stimmung ausklingen zu laſſen: die Landſchaft, welche in Italien eigentlich
erſt Tizian und ſeine venetianiſchen Genoſſen um ihrer ſelbſt willen ausgebildet haben. Venedig
ſelbſt, die Inſelſtadt, bietet wenig von Dem, was den Inhalt landſchaftlicher Darſtellung ausmacht.
„Hier ſeht Ihr freilich keine grünen Auen,
. Ihr könnt Euch nicht im Duft der Roſe baden“,
nur Sonnenglanz, feuchte Seeluft und blaugrüne Waſſerfläche — aber um ſo ſtärker wacht dem
Künſtler vielleicht die Sehnſucht nach den Bäumen und Gefilden des Feſtlandes, nach dem Gebirge,
deſſen Gipfel bei klarem Wetter in der Ferne ſchimmern, auf. Die maleriſche, erhabene Wildheit
der Alpenthäler, in welchen Tizian ſeine Kindheit verlebte, wird von ihm, 2 noch romantiſcher
und phantaſtiſcher, in zahlreichen Bildern feſtgehalten.
Aber in dieſer Fähigkeit, die leibliche Schönheit, den Zauber der landſchaftlichen Natur und
die Exiſtenz des Menſchen in dieſer zu ſchildern, erſchöpft ſich die künſtleriſche Eigenthümlichkeit
Tizians nicht. Schon der Zinsgroſchen iſt ein Beleg dafür, mit welchem Geiſte er auch religiöſe.
Aufgaben zu faſſen weiß. Hier umfängt uns keine Atmoſphäre der Andacht und des Wunders.
Der Vorgang iſt in das Gebiet des rein Menſchlichen verſetzt, was ſchon Bellini erſtrebt hatte.
Aber der reinſte, erhabenſte Adel, deſſen die menſchliche Natur fähig iſt, hat in dieſem Ehriſtus
Geſtalt gewonnen, und der innerliche Sieg dieſer hohen, milden Natur über menſchliche
Beſchränktheit und Gemeinheit, das iſt der geiſtige Inhalt dieſes Werkes, welcher verkörpert iſt
mit den einfachſten Mitteln, die möglich ſind. Zwei Köpfe und zwei Hände genügen, dieſe
pſychologiſch tief gefaßte Situation zu geben, wie wenige entſchiedene Farben ausreichen, dieſe
coloriſtiſche Herrlichkeit zu entfalten. Bei aller üppigen Schönheit von Fleiſch und Goldhaar —