Tiziau. 71
— rein aus Freude an ihrer Schönheit ſo gemalt — gewinnt in Tizian's Büßerin Magdalena,
im Palazzo Pitti, doch auch der geiſtige Inhalt, die rührende Zerknirſchung, ſein Recht. Welch
eine geheimnißvolle Macht des Ausdrucks in ſeinem Wüſtenprediger Johannes, in der Akademie
zu Venedig. Während er hier durch ganz einfache Gruppen und Geſtalten wirkt, weiß er ein
andermal, wie in älterer Zeit Gentile Bellini, dem Ereigniß der heiligen Legende die Fülle wirk-
den Genre⸗Epiſoden zum Hintergrunde zu geben, ſo in Maria's Darſtellung im Tempel (Akademie
zu Venedig), auf welcher die Geſtalt des zum Heiligthum emporſchreitenden kleinen Mädchens,
kindlich und verklärt zugleich, ſich doch ſo wirkungsvoll von den reichen Gruppen ringsum abhebt.
Madonnen und heilige Familien zeigen leicht jenen idylliſchen Charakter, welchen die venetianiſche
Schule liebt, Mutterglück, holde Kindlichkeit, ein ruhiges, in ſich befriedigtes Daſein wird geſchil-
dert, nur daß bei Tizian das Grundmotiv gewöhnlich ſprechender, individueller als z. B. bei
Palma Vecchio iſt. Bei der Madonna mit dem Kaninchen im Louvre, bei jenem Madonnenbild
in der Londoner Nationalgalerie, auf welchem die heilige Katharina das Chriſtuskindlein mit
leidenſchaftlicher Gluth an die Lippen drückt, wirkt zugleich die Landſchaft poetiſch mit. Getragener
im Stil iſt das anziehendſte unter den Bildern gleicher Gattung in Dresden, auf welchem die
Madonna ganz Huld iſt, und die hohe, vornehme Frau, die in Geſtalt der heiligen Magdalena auf
ſie zutritt, in ſo wirkungsvollem Gegenſatz zu den durchgearbeiteten Charakterköpfen der männlichen
Heiligen ſteht. Das ſchönſte unter allen Werken Tizian's, dem man im eigentlichen Sinne den
Namen einer heiligen Converſation geben kann, iſt die Madonna der Familie Peſaro in
S. Maria de' Frari zu Venedig, auf welche ſolche Bezeichnung noch genauer paßt als auf die
thronenden Marien Bellini's. Nicht die Linie, ſondern die Farbe iſt dasjenige, was die Gruppen-
bildung beſtimmt, die Symmetrie iſt einer bewegten Anordnung gewichen. Das feierlich Reprä-
ſentirende des ältern Stils hat ſich gelöſt, alle dargeſtellten Perſönlichkeiten ſind in Beziehung zu
einander geſetzt, ſind im Austauſch des Worts und der Empfindung begriffen. Links kniet der
Stifter, der nach einem Siege über die Ungläubigen das Werk geweiht, hinter ihm ſteht ein
Kriegsmann, der die Fahne emporhält und den gefangenen Ungläubigen herbeiſchleppt. In wie
gütiger Hoheit ſich auch die Madonna zu jenem neigt, er darf ſich ihr doch nicht unmittelbar
nahen; als Vermittler hat St. Petrus auf den Thronesſtufen Platz genommen, und zugleich lenkt
St. Antonius von Padua den Blick des muntern Chriſtusknaben, der ſo unbeſchreiblich reizend mit
ſeinem aufgehobenen Füßchen daſteht, auf die vier Männer und den lieblichen Knaben, welche zur
Rechten knieen, und von welchen keiner den Blick zu den Angebeteten aufzuheben wagt. Hoch ragen
ſchlanke Säulen über dieſen Gruppen voll feiner Anmuth empor, bis ſich ganz oben in den Wolken
Flügelknaben mit dem ſiegreichen Kreuze tummeln. Aus derſelben Kirche ſtammt das jetzt in der
Akademie zu Venedig bewahrte große Bild, das vielleicht als Tizian's religiöſes Hauptwerk
angeſehen werden kann, die Himmelfahrt Maria's. Unten die Jünger, in ſtürmiſcher Ergriffenheit
durch das Wunder, oben der ganze Himmel in Jubel und Bewegung, tragende und ſchwebende,
muſicirende und lobpreiſende Engel voll lieblicher Kindlichkeit, die Madonna in ihrer ſchönen
Bewegung eine lebendige Verkörperung der Sehnſucht nach oben und zugleich ſo demuthsvoll mitten
im Lichtglanz, der ſie umſchließt, und in der Höhe der mächtig daherſchwebende Gott Vater, die
Arme ihr entgegenbreitend; das Ganze ſo frei, ſo farbenleuchtend, von ſo unwiderſtehlicher
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— rein aus Freude an ihrer Schönheit ſo gemalt — gewinnt in Tizian's Büßerin Magdalena,
im Palazzo Pitti, doch auch der geiſtige Inhalt, die rührende Zerknirſchung, ſein Recht. Welch
eine geheimnißvolle Macht des Ausdrucks in ſeinem Wüſtenprediger Johannes, in der Akademie
zu Venedig. Während er hier durch ganz einfache Gruppen und Geſtalten wirkt, weiß er ein
andermal, wie in älterer Zeit Gentile Bellini, dem Ereigniß der heiligen Legende die Fülle wirk-
den Genre⸗Epiſoden zum Hintergrunde zu geben, ſo in Maria's Darſtellung im Tempel (Akademie
zu Venedig), auf welcher die Geſtalt des zum Heiligthum emporſchreitenden kleinen Mädchens,
kindlich und verklärt zugleich, ſich doch ſo wirkungsvoll von den reichen Gruppen ringsum abhebt.
Madonnen und heilige Familien zeigen leicht jenen idylliſchen Charakter, welchen die venetianiſche
Schule liebt, Mutterglück, holde Kindlichkeit, ein ruhiges, in ſich befriedigtes Daſein wird geſchil-
dert, nur daß bei Tizian das Grundmotiv gewöhnlich ſprechender, individueller als z. B. bei
Palma Vecchio iſt. Bei der Madonna mit dem Kaninchen im Louvre, bei jenem Madonnenbild
in der Londoner Nationalgalerie, auf welchem die heilige Katharina das Chriſtuskindlein mit
leidenſchaftlicher Gluth an die Lippen drückt, wirkt zugleich die Landſchaft poetiſch mit. Getragener
im Stil iſt das anziehendſte unter den Bildern gleicher Gattung in Dresden, auf welchem die
Madonna ganz Huld iſt, und die hohe, vornehme Frau, die in Geſtalt der heiligen Magdalena auf
ſie zutritt, in ſo wirkungsvollem Gegenſatz zu den durchgearbeiteten Charakterköpfen der männlichen
Heiligen ſteht. Das ſchönſte unter allen Werken Tizian's, dem man im eigentlichen Sinne den
Namen einer heiligen Converſation geben kann, iſt die Madonna der Familie Peſaro in
S. Maria de' Frari zu Venedig, auf welche ſolche Bezeichnung noch genauer paßt als auf die
thronenden Marien Bellini's. Nicht die Linie, ſondern die Farbe iſt dasjenige, was die Gruppen-
bildung beſtimmt, die Symmetrie iſt einer bewegten Anordnung gewichen. Das feierlich Reprä-
ſentirende des ältern Stils hat ſich gelöſt, alle dargeſtellten Perſönlichkeiten ſind in Beziehung zu
einander geſetzt, ſind im Austauſch des Worts und der Empfindung begriffen. Links kniet der
Stifter, der nach einem Siege über die Ungläubigen das Werk geweiht, hinter ihm ſteht ein
Kriegsmann, der die Fahne emporhält und den gefangenen Ungläubigen herbeiſchleppt. In wie
gütiger Hoheit ſich auch die Madonna zu jenem neigt, er darf ſich ihr doch nicht unmittelbar
nahen; als Vermittler hat St. Petrus auf den Thronesſtufen Platz genommen, und zugleich lenkt
St. Antonius von Padua den Blick des muntern Chriſtusknaben, der ſo unbeſchreiblich reizend mit
ſeinem aufgehobenen Füßchen daſteht, auf die vier Männer und den lieblichen Knaben, welche zur
Rechten knieen, und von welchen keiner den Blick zu den Angebeteten aufzuheben wagt. Hoch ragen
ſchlanke Säulen über dieſen Gruppen voll feiner Anmuth empor, bis ſich ganz oben in den Wolken
Flügelknaben mit dem ſiegreichen Kreuze tummeln. Aus derſelben Kirche ſtammt das jetzt in der
Akademie zu Venedig bewahrte große Bild, das vielleicht als Tizian's religiöſes Hauptwerk
angeſehen werden kann, die Himmelfahrt Maria's. Unten die Jünger, in ſtürmiſcher Ergriffenheit
durch das Wunder, oben der ganze Himmel in Jubel und Bewegung, tragende und ſchwebende,
muſicirende und lobpreiſende Engel voll lieblicher Kindlichkeit, die Madonna in ihrer ſchönen
Bewegung eine lebendige Verkörperung der Sehnſucht nach oben und zugleich ſo demuthsvoll mitten
im Lichtglanz, der ſie umſchließt, und in der Höhe der mächtig daherſchwebende Gott Vater, die
Arme ihr entgegenbreitend; das Ganze ſo frei, ſo farbenleuchtend, von ſo unwiderſtehlicher
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