Murillo.
Die Vesperglocken tönten von allen Thürmen und Thürmchen Sevillas, als ein ausländiſch
gekleideter, wohlberittener Cavalier, dem ein Diener auf einem hohen Maulthier folgte, vom
Platze des Alcazar, des alten mauriſchen Herrſcherpalaſtes, in die Straße del Caridad einbog,
welche, obgleich damals eine der Hauptſtraßen der Königin der Städte Andaluſiens, kaum breit
genug war, um eines der breitbepackten Maulthiere durchzulaſſen, die ihre koſtbaren Laſten von
Cadiz, Algeziras und Malaga herbeiſchleppten.
Der Diener war ein junger Burſch, deſſen Farbe und Geſichtszüge ſtark auf afrikaniſches
Blut deuteten. Er ſaß quer auf ſeiner ſtörriſch blickenden Tia und beſchäftigte ſich damit, eine
Zibebe nach der andern zu verzehren und die, nach der Straßenſeite zu kahle Mauern und kleine
vergitterte Fenſter zeigenden, caſtellartigen Häuſer mit einem Blicke neugieriger Verwunderung zu
betrachten. In der Straße del Caridad war ein nicht geringes Gedränge von Fußgängern jeden
Alters, welche, ſo wie die Thiere herankamen, in die tief zurückweichenden Pforten der Häuſer
ſchlüpften, um das Pferd und das Maulthier vorbeizulaſſen.
„He! Sennor!“ rief der barfüßige und barhäuptige zerlumpte Burſche. „Wird etwa dieſe
Straße noch bedeutend ſchmäler werden, wie ſie es jetzt ſchon iſt? In dieſem Falle wäre es beſſer,
wenn Eure Herrlichkeit erlauben wollten, daß ich die Tia wieder rückwärts führe.“
„Folge mir, Joſé“, erwiederte der Cavalier, indeß er ſich flüchtig umſchaute und einen prüfen-
den Blick auf die Laſt warf, welche von beiden Seiten des Packſattels des Maulthiers ſo weit
abſtand, daß ſelbige faſt die Mauern der Häuſer berührte.
„Nun, Sennor“, antwortete der Jüngling gleichmüthig, „mir iſt's ſchon recht, wenn die
Bilder hier zu Grunde gehen, die ich mit einer Sorgfalt bisher behütete, wie kein Prieſter ſie dem
Venerabile zuwendet. Jetzt ſollte uns hier ein Reiter, oder ein Zug von beladenen Eſeln, oder nur
ein Laſtträger begegnen, oder Euer Herrlichkeit ſollte den Einfall haben, auf künſtliche Weiſe Ihr
Pferd in dieſer verzweifelten Straße umzudrehen, um rückwärts zu reiten: ſo wüßte ich bei Sanct
Jakob nicht, was ich mit meiner guten Tia anfangen ſollte. Sie kann doch ganz unmöglich ein
paar Hundert Schritte rückwärts gehen . . .“
In dieſem Augenblicke hörte man den ſcharfen Ton einer kleinen Glocke, und bald darauf
zeigte ſich ein Reiter, welcher im kurzen Trabe den beiden Fremden entgegenkam, indeß er kräftig
in der rechten Hand eine glänzende Schelle ſchwenkte.
„Da haben wir's ſchon!“ ſagte der Burſche auf dem Maulthier. „Wer aber nicht weichen
wird, der heißt ſo, wie meines Vaters einziger Sohn, und die Tia ſoll, denke ich, ihren verſtorbenen
Eltern auch keine Schande machen.“
Der Reiter mit der Schelle war ein hochgewachſener Mann, etwa ſechsundzwanzig Jahre alt,
Deutſchlands Kunſtſchätze 5
Die Vesperglocken tönten von allen Thürmen und Thürmchen Sevillas, als ein ausländiſch
gekleideter, wohlberittener Cavalier, dem ein Diener auf einem hohen Maulthier folgte, vom
Platze des Alcazar, des alten mauriſchen Herrſcherpalaſtes, in die Straße del Caridad einbog,
welche, obgleich damals eine der Hauptſtraßen der Königin der Städte Andaluſiens, kaum breit
genug war, um eines der breitbepackten Maulthiere durchzulaſſen, die ihre koſtbaren Laſten von
Cadiz, Algeziras und Malaga herbeiſchleppten.
Der Diener war ein junger Burſch, deſſen Farbe und Geſichtszüge ſtark auf afrikaniſches
Blut deuteten. Er ſaß quer auf ſeiner ſtörriſch blickenden Tia und beſchäftigte ſich damit, eine
Zibebe nach der andern zu verzehren und die, nach der Straßenſeite zu kahle Mauern und kleine
vergitterte Fenſter zeigenden, caſtellartigen Häuſer mit einem Blicke neugieriger Verwunderung zu
betrachten. In der Straße del Caridad war ein nicht geringes Gedränge von Fußgängern jeden
Alters, welche, ſo wie die Thiere herankamen, in die tief zurückweichenden Pforten der Häuſer
ſchlüpften, um das Pferd und das Maulthier vorbeizulaſſen.
„He! Sennor!“ rief der barfüßige und barhäuptige zerlumpte Burſche. „Wird etwa dieſe
Straße noch bedeutend ſchmäler werden, wie ſie es jetzt ſchon iſt? In dieſem Falle wäre es beſſer,
wenn Eure Herrlichkeit erlauben wollten, daß ich die Tia wieder rückwärts führe.“
„Folge mir, Joſé“, erwiederte der Cavalier, indeß er ſich flüchtig umſchaute und einen prüfen-
den Blick auf die Laſt warf, welche von beiden Seiten des Packſattels des Maulthiers ſo weit
abſtand, daß ſelbige faſt die Mauern der Häuſer berührte.
„Nun, Sennor“, antwortete der Jüngling gleichmüthig, „mir iſt's ſchon recht, wenn die
Bilder hier zu Grunde gehen, die ich mit einer Sorgfalt bisher behütete, wie kein Prieſter ſie dem
Venerabile zuwendet. Jetzt ſollte uns hier ein Reiter, oder ein Zug von beladenen Eſeln, oder nur
ein Laſtträger begegnen, oder Euer Herrlichkeit ſollte den Einfall haben, auf künſtliche Weiſe Ihr
Pferd in dieſer verzweifelten Straße umzudrehen, um rückwärts zu reiten: ſo wüßte ich bei Sanct
Jakob nicht, was ich mit meiner guten Tia anfangen ſollte. Sie kann doch ganz unmöglich ein
paar Hundert Schritte rückwärts gehen . . .“
In dieſem Augenblicke hörte man den ſcharfen Ton einer kleinen Glocke, und bald darauf
zeigte ſich ein Reiter, welcher im kurzen Trabe den beiden Fremden entgegenkam, indeß er kräftig
in der rechten Hand eine glänzende Schelle ſchwenkte.
„Da haben wir's ſchon!“ ſagte der Burſche auf dem Maulthier. „Wer aber nicht weichen
wird, der heißt ſo, wie meines Vaters einziger Sohn, und die Tia ſoll, denke ich, ihren verſtorbenen
Eltern auch keine Schande machen.“
Der Reiter mit der Schelle war ein hochgewachſener Mann, etwa ſechsundzwanzig Jahre alt,
Deutſchlands Kunſtſchätze 5