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Görling, Adolph; Woltmann, Alfred [Bearb.]; Meyer, Bruno [Bearb.]
Deutschlands Kunstschätze: eine Sammlung der hervorragendsten Bilder der Berliner, Dresdner, Münchner, Wiener, Casseler und Braunschweiger Galerien : eine Reihe von Porträts der bedeutendsten Meister (Band 1) — Leipzig: Verlag von A. H. Payne, 1871

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https://doi.org/10.11588/diglit.62315#0406
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72 Künſtler · Liographien.

Begeiſterung durchdrungen. Ein anderes Meiſterwerk Tizian's in Venedig, das auch das
Dramatiſche großartig erfaßte, das Fürchterliche noch mit Adel darſtellte, „der Tod St. Peters
des Märtyrers“, iſt durch den unglücklichen Sakriſteibrand von San Giovanni e Paolo im Jahre
1867 zu Grunde gegangen. Nicht immer befriedigt Tizian in chriſtlichen Marterſeenen. Seine
Dornenkrönung im Louvre (ein ähnliches Bild ſeit Kurzem in der Münchener Pinakothek) faßt den
Vorwurf, bei aller Schönheit und Tiefe der coloriſtiſchen Wirkung, doch in ähnlich verletzender und
gräßlicher Weiſe wie das die Kunſt des Nordens damals zu thun pflegte, wie es aber ein Raphael
nie über ſich vermocht hätte. Wie zur Verſöhnung bewahrt der Louvre eine andere Schöpfung
Tizian's, „Die Grablegung Chriſti,“ in welcher der Schmerz in ſeiner ganzen Wucht geſchildert wird,
die Leidenſchaft in ihrer äußerſten Erregung auftritt, alle Mittel der Farbe, des Helldunkels, die
Mitwirkung der landſchaftlichen Stimmung dieſen Ausdruck unterſtützen, aber die Auffaſſung
zugleich ſo ſeelenvoll und edel iſt, daß ſich das tief Ergreifende nicht auf Koſten der Schönheit
geltend macht. Als erſchütterndes Klagelied ſteht dies Bild ebenſo hoch wie die Himmelfahrt
Maria's als begeiſterter Hymnus voll Seligkeit und Luſt.

Tizian's religiöſe Werke, von dem Zinsgroſchen an bis zur Grablegung, welche der ſpäteren
Epoche des Künſtlers angehört, zeigen, daß er zwar das Feld des Dramatiſch-Bewegten nicht
häufig betritt, wohl aber ſtets großartige, völlig individuelle Charakter zu ſchaffen vermag, die
er bei lebhafter Handlung ebenſo gut wie bei ruhiger Situation in voller pſychologiſcher Tiefe
auffaßt. Gerade dieſe Eigenſchaft macht ihn zu einem Meiſter im Portrait. Auf wie mannich-
fachen Gebieten ſeine Darſtellungskraft ſich ſonſt auch bewegt, das Ueppig-Schöne wie das Seelen-
voll-Tiefe, das Glück ruhiger, genußvoller Exiſtenz wie die heftig aufgeregte Leidenſchaft ver-
körpert, ſo genügt dem Künſtler doch auch die ſchlichte Aufgabe des Bildniſſes, um die ganze
Macht ſeines Genius zu offenbaren. Bei ihm wie bei einem Raphael, einem Holbein, einem
Rubens oder Rembrandt, werden wir die Bildniſſe den vorzüglichſten Leiſtungen aus ſolchen
Gebieten, in denen die Phantaſie freier ſchalten darf, unbedingt gleichſtellen. Sie werden zum
Prüfſtein für die Fähigkeit des Künſtlers, das individuelle Leben darzuſtellen. In beſtimmte
Gränzen gewieſen, wirkt die ſchöpferiſche Kraft nur um ſo geſammelter. Was aber ſchon ſein
Portrait Arioſto's ausgezeichnet hatte, bleibt allen ſpäteren Leiſtungen in dieſem Fache treu: das
eigenthümlich Poetiſche der Auffaſſung. Wir ſind gewohnt, die Venetianer im Gegenſatz zu den
übrigen Italiänern vorzugsweiſe als Realiſten anzuſehen, wir wiſſen, daß die Farbe, die ihr
eigenthümliches Organ bildet, das hauptſächliche Mittel iſt, um den vollkommenen Schein des
Wirklichen hervorzurufen Und doch ſind ſeine Bildniſſe keineswegs in dem Sinne wie diejenigen
eines San van Eyck, Holbein, Velazquez, realiſtiſch. Das beſtimmte ſcharfe Erfaſſen des Wirklichen
bis in die einzelnen und kleinſten Züge iſt nicht ſein Ziel. Er verleiht den Portraits ſtets den
Charakter des überzeugend Wahren, aber es iſt, als ob er ſie in eine erhöhte Sphäre des Daſeins
verſetzte. „Der göttliche Zug in Tizian“, ſagt Jacob Burckhardt, „beſteht darin, daß er den
Dingen und Menſchen diejenige Harmonie des Daſeins anfühlt, welche in ihnen nach Anlage
ihres Weſens ſein ſollte oder noch getrübt und unkenntlich in ihnen lebt; was in der Wirklichkeit
zerfallen, zerſtreut, bedingt iſt, das ſtellt er als ganz, glückſelig und frei dar“ Alle nebenſächlichen
und kleinlichen Züge verſchwinden, ſie treten gegen die großen und weſentlichen zurück Er giebt
die Abgebildeten nicht in der bedingten Situation, wie ſie jeder beſtimmte Moment mit ſich bringt,

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