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' Die Pietä.
gende Arm, der eingeknickte, gesunkene Leib, das vom Halse
hinterrücks gefallene Haupt, die Windunz des ganzen Mannes-
körpers, der daliegt, als wäre er durch den Tod wieder zum
Kinde geworden, das die Mutter in ihre Arme genommen
hat, dabei im Antlitz eine wnnderbare Vermischung des alt-
hergebrachten byzantinischen Typus in länglichen Zügen mit
getheiltem Barte und der edelsten Bestandtheile des jüdischen
Nationalausdruckes: — Kciner vor Michelangelo wäre darauf
versallen; je öfter man das Werk betrachtet, um so rührender
wird seine Schönheit; überall die reinste Natur, deren Jnne-
res und Aeußeres ineinander aufgehen. Was vor dieser Ar-
beit in Jtalien von Bildhauern geleistet worden ist, tritt in
Schatten und nimmt das Ansehen von Versuchen an, denen
es irgendwo fehlt, sei es am Gedanken oder in der Aus-
sührung; hier deckt sich Beides. Künstler, Werk und Zeitum-
stände greifen ineinander ein, und es entstand etwas, das voll-
kommen genannt zu- werden verdient. Michelangelo zählte
vierundzwanzig Zahre, als er seine PietL beendete. Er war
der erste Meister in Jtalien, der erste der Welt von nun an,
sagt Condivi; ja man ging so weit, zu behaupten, sagt er weiter,
daß Michelangelo die antiken Meister übertroffen habe.
Wie war es möglich, daß in einer Zeit, wo die Auf-
lösung aller politischen, sittlichen, äußerlich und innerlich reli-
giösen Zustände zu erwarten stand, in Rom, dem Mittelpunkte
der Verderbniß, ein Werk, wie diese Madonna geschaffen, tief
empsunden in ihrer Schönheit, nnd von einem jener Cardi-
näle mit theurem Golde bezahlt werden konnte?
Es wurden bei dem Werke Fragen damals aufgebracht,
an die heute Niemand denken würde. Man fand die Maria
' Die Pietä.
gende Arm, der eingeknickte, gesunkene Leib, das vom Halse
hinterrücks gefallene Haupt, die Windunz des ganzen Mannes-
körpers, der daliegt, als wäre er durch den Tod wieder zum
Kinde geworden, das die Mutter in ihre Arme genommen
hat, dabei im Antlitz eine wnnderbare Vermischung des alt-
hergebrachten byzantinischen Typus in länglichen Zügen mit
getheiltem Barte und der edelsten Bestandtheile des jüdischen
Nationalausdruckes: — Kciner vor Michelangelo wäre darauf
versallen; je öfter man das Werk betrachtet, um so rührender
wird seine Schönheit; überall die reinste Natur, deren Jnne-
res und Aeußeres ineinander aufgehen. Was vor dieser Ar-
beit in Jtalien von Bildhauern geleistet worden ist, tritt in
Schatten und nimmt das Ansehen von Versuchen an, denen
es irgendwo fehlt, sei es am Gedanken oder in der Aus-
sührung; hier deckt sich Beides. Künstler, Werk und Zeitum-
stände greifen ineinander ein, und es entstand etwas, das voll-
kommen genannt zu- werden verdient. Michelangelo zählte
vierundzwanzig Zahre, als er seine PietL beendete. Er war
der erste Meister in Jtalien, der erste der Welt von nun an,
sagt Condivi; ja man ging so weit, zu behaupten, sagt er weiter,
daß Michelangelo die antiken Meister übertroffen habe.
Wie war es möglich, daß in einer Zeit, wo die Auf-
lösung aller politischen, sittlichen, äußerlich und innerlich reli-
giösen Zustände zu erwarten stand, in Rom, dem Mittelpunkte
der Verderbniß, ein Werk, wie diese Madonna geschaffen, tief
empsunden in ihrer Schönheit, nnd von einem jener Cardi-
näle mit theurem Golde bezahlt werden konnte?
Es wurden bei dem Werke Fragen damals aufgebracht,
an die heute Niemand denken würde. Man fand die Maria