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Grimm, Herman
Zehn ausgewählte Essays zur Einführung in das Studium der neueren Kunst — Berlin, 1883

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https://doi.org/10.11588/diglit.2088#0034
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in seinem Geiste. Doch es war keine ausgesprochene Rivalität,
es wäre vielleicht eine geworden. Raphael verfiel dem Tode in
der Blüthe seines Lebens. Keine Abnahme seiner Kraft, kein
Stehenbleiben, keine Manier ist bei ihm wahrzunehmen, wie sie
bei Michelangelo hervortritt, der die Welt in eigenthümlicher
Weise grandios erblickte und darstellt. Der menschliche Körper
war seinen Händen vertraut; die unmerklichsten Wendungeu wußte
er zu unterscheiden, Schönheit in jeden Nerv zu legen, der sich
anspannte oder erschlaffend nachließ. Raphael's Gestalten er-
schöpfen die Möglichkeit menschlicher Bewegung, wie die Bild-
säulen der Griechen die der menschlichen Ruhe, wie die Gedichte
Shakespeare's die der menschlichen Leidenschaft, Goethe's Gedichte
die der liebenden Betrachtung erschöpfen. Seine Werke sind ganz
vollendet. Das scheinbar Fehlerhafte wird zu einer Eigenthümlich-
keit, wie die Abweichungen der Natur nicht gegen ihre Gesetze
verstoßen. Sehen wir sie an, so steht unsere Sehnsucht süll
und verlangt nichts mehr. Wir wollen nur sehn, die Gedanken
verschwinden, die Forderungen der Phantasie verstummen und
sind befriedigt. Kein Gedanke daran, daß er für Andere malte,
daß er Gold und Ruhm im Sinne hatte, sein eignes Glück
scheint er gesucht zu haben indem er arbeitete. Die Göttin der
Schönheit bot ihm ihre Lippen und er küßte sie, ihren Nacken,
den er umarmte, was lag ihm daran, ob es gesehen ward oder
nicht? er stand nicht auf dem Theater seiner Geliebten gegen-
über und begeisterte sich, um Andere zum Beifall zu begeistern.
Er genoß das Leben und malte. Seine Bilder zeigen ein Studium,
das heute unerhört ist; aber es scheint ihm nur ein Genuß ge-
wesen zu sein. Es entzückte ihn, eine schöne Gestalt drei- vier-
mal zu wiederholen, ehe er sie malte, die Lage eines Körpers
immer anders und anders darzustellen, ehe er sie definitiv zu
seinen Bildern benutzte. Es quoll ihm aus den Fingern, es
war keine Arbeit, wie einem Rosenbusche das Blühen keine Mühe
macht, was er angriff, verwandelte sich in Schönheit. Mitten
 
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