3. DAS SPÄTARCHAISCHE
UND DAS KLASSISCHE „ORNAMENTALE" FIRSTAKROTER
Im Gegensatz zum archaischen ornamentalen Firstakroter der älteren Form, das eine Palmette
über ein Spiralpaar stellt, bildet sich in spätarchaischer Zeit ein vielstöckiges Ranken-Palmetten-
Ornament aus195). Die drei Akrotere des Aphaiatempels zu Ägina sind uns hierfür die frü-
hesten erhaltenen Beispiele196). Die äginetischen Akrotere sind in einer völlig planen Relief-
ebene angelegt, aus einer schweren Marmorplatte durchbrochen gearbeitet. Zwei von unten
bis oben ununterbrochen fortlaufende, in Spiralen sich verzweigende und am Ende zu Spiralen
sich einrollende Rankenbänder (die wir besser als Spiralrankenbänder bezeichnen sollten, da
Ranke und Spirale gleichen Wesens sind) entwickeln sich aus der Basis, streben zweimal aus-
einander, um sich wieder zu begegnen. Die Spiralpaare entfalten sich in drei Geschossen; im
mittleren teilt sich das Spiralrankenband in je zwei Doppelspiralpaare, in größere Innen-
spiralen und kleinere Außenspiralen; im ganzen zählen wir acht Spiralen. Alle Zwickel sind
mit Vollpalmetten gefüllt. Im Winkel über dem obersten Spiralpaar, in der Achse also, sitzt
eine die übrigen Palmetten an Größe überragende ,krönende' Palmette; im Gesamtgefüge von
Ägina West197) wirkt sie fast noch ganz wie eine Zwickelfüllung, nicht eigentlich als ent-
scheidender Bestandteil, als die wahre Krone des Firstschmucks. Rankenband und Palmette
also sind die Elemente des spätarchaischen Akroters; sein Aufbau ist durch waagerechte und
senkrechte Achsen bestimmt; es stellt sich als reines Ornament dar. Im Gesamtbild dominieren
die breiten „schematisch" geführten Spiralrankenzüge, die geometrisch gruppierten mächtigen
Spiralpaare, und die Zwickelpalmetten verteilen sich gleichmäßig über die Fläche hin. Allein
die Palmette der Akroterspitze ist um weniges hervorgehoben; und in ihrer ersten leierförmi-
gen Biegung sind die Ranken von kraftvollerer Schwellung: ein verhaltener Hinweis gleichsam
auf eine organisch-pflanzliche Vorstellung, die ,über den Wurzeln' den Einsatz schwereren
Wuchses der ,Stämme' verlangt. In den beiden um die Jahrhundertmitte entstandenen Akro-
teren von Sunion und Caulonia sind die bekrönenden Palmetten oder das Eigensein der Ranken
sodann schon stärker ausgeprägt198). Beides gilt vor allem für Sunion.
Die Zugehörigkeit des Akroters von Sunion zum Tempel des Poseidon darf als gesichert
gelten199); seine zeitliche Ansetzung „nicht weit von der Mitte des Jahrhunderts" hat
R. Herbig begründet200). Dieses Akroter eines frühklassischen Tempels ist seinem Wesen
nach noch ein ,spätarchaisches' Gebilde, gleicht es doch im Gesamtaufbau, in seiner Flächigkeit
noch durchaus dem spätarchaischen Firstschmuck von Ägina201). Und doch ist ein Schritt in der
Entwicklung vollzogen, der aber noch nicht als ein entscheidender, tief verändernder bezeichnet
werden kann: die Rankenschäfte sind durch bedeutende /körperliche' Schwellung von den
schlanken Spiralen abgesetzt202); ihre erste leierförmig geschwungene Biegung über den
,Wurzeln' wird nun von zwei übereinander aufwachsenden „Wurzelblättern" begleitet,
deren unteres akanthisch gezackt ist, und in einem nach vorne überfallenden Mittelblatte
kündigt sich ein Ausgreifen in die dritte Dimension leise an. Die Palmette der Akroterspitze,
die auf dem obersten Spiralpaar unmittelbar aufsitzt, hat sich zu einem bedeutenden Akzent
geweitet.
Die Aufnahme pflanzlicher Elemente203) verbindet das Akroter von Sunion mit dem Tempel-
akroter von Caulonia, das etwa gleichzeitig anzusetzen ist204). Die Relieffläche des wie in
Sunion massiv gearbeiteten Akroters ist von vier aufsteigenden Ranken überzogen, die sich
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UND DAS KLASSISCHE „ORNAMENTALE" FIRSTAKROTER
Im Gegensatz zum archaischen ornamentalen Firstakroter der älteren Form, das eine Palmette
über ein Spiralpaar stellt, bildet sich in spätarchaischer Zeit ein vielstöckiges Ranken-Palmetten-
Ornament aus195). Die drei Akrotere des Aphaiatempels zu Ägina sind uns hierfür die frü-
hesten erhaltenen Beispiele196). Die äginetischen Akrotere sind in einer völlig planen Relief-
ebene angelegt, aus einer schweren Marmorplatte durchbrochen gearbeitet. Zwei von unten
bis oben ununterbrochen fortlaufende, in Spiralen sich verzweigende und am Ende zu Spiralen
sich einrollende Rankenbänder (die wir besser als Spiralrankenbänder bezeichnen sollten, da
Ranke und Spirale gleichen Wesens sind) entwickeln sich aus der Basis, streben zweimal aus-
einander, um sich wieder zu begegnen. Die Spiralpaare entfalten sich in drei Geschossen; im
mittleren teilt sich das Spiralrankenband in je zwei Doppelspiralpaare, in größere Innen-
spiralen und kleinere Außenspiralen; im ganzen zählen wir acht Spiralen. Alle Zwickel sind
mit Vollpalmetten gefüllt. Im Winkel über dem obersten Spiralpaar, in der Achse also, sitzt
eine die übrigen Palmetten an Größe überragende ,krönende' Palmette; im Gesamtgefüge von
Ägina West197) wirkt sie fast noch ganz wie eine Zwickelfüllung, nicht eigentlich als ent-
scheidender Bestandteil, als die wahre Krone des Firstschmucks. Rankenband und Palmette
also sind die Elemente des spätarchaischen Akroters; sein Aufbau ist durch waagerechte und
senkrechte Achsen bestimmt; es stellt sich als reines Ornament dar. Im Gesamtbild dominieren
die breiten „schematisch" geführten Spiralrankenzüge, die geometrisch gruppierten mächtigen
Spiralpaare, und die Zwickelpalmetten verteilen sich gleichmäßig über die Fläche hin. Allein
die Palmette der Akroterspitze ist um weniges hervorgehoben; und in ihrer ersten leierförmi-
gen Biegung sind die Ranken von kraftvollerer Schwellung: ein verhaltener Hinweis gleichsam
auf eine organisch-pflanzliche Vorstellung, die ,über den Wurzeln' den Einsatz schwereren
Wuchses der ,Stämme' verlangt. In den beiden um die Jahrhundertmitte entstandenen Akro-
teren von Sunion und Caulonia sind die bekrönenden Palmetten oder das Eigensein der Ranken
sodann schon stärker ausgeprägt198). Beides gilt vor allem für Sunion.
Die Zugehörigkeit des Akroters von Sunion zum Tempel des Poseidon darf als gesichert
gelten199); seine zeitliche Ansetzung „nicht weit von der Mitte des Jahrhunderts" hat
R. Herbig begründet200). Dieses Akroter eines frühklassischen Tempels ist seinem Wesen
nach noch ein ,spätarchaisches' Gebilde, gleicht es doch im Gesamtaufbau, in seiner Flächigkeit
noch durchaus dem spätarchaischen Firstschmuck von Ägina201). Und doch ist ein Schritt in der
Entwicklung vollzogen, der aber noch nicht als ein entscheidender, tief verändernder bezeichnet
werden kann: die Rankenschäfte sind durch bedeutende /körperliche' Schwellung von den
schlanken Spiralen abgesetzt202); ihre erste leierförmig geschwungene Biegung über den
,Wurzeln' wird nun von zwei übereinander aufwachsenden „Wurzelblättern" begleitet,
deren unteres akanthisch gezackt ist, und in einem nach vorne überfallenden Mittelblatte
kündigt sich ein Ausgreifen in die dritte Dimension leise an. Die Palmette der Akroterspitze,
die auf dem obersten Spiralpaar unmittelbar aufsitzt, hat sich zu einem bedeutenden Akzent
geweitet.
Die Aufnahme pflanzlicher Elemente203) verbindet das Akroter von Sunion mit dem Tempel-
akroter von Caulonia, das etwa gleichzeitig anzusetzen ist204). Die Relieffläche des wie in
Sunion massiv gearbeiteten Akroters ist von vier aufsteigenden Ranken überzogen, die sich
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