TJiirer unö Ute Kenaiffance im $oröen
In ununterbrochenem Zuge sind seit eh und je die Deutschen über die
Alpen gezogen: als Pilger, als Geistliche, als Gesandte, Kaufleute und
Handwerker, als Studenten und Gelehrte. Die Verbindung von Nord und
Süd kann man sich nicht eng genug vorstellen. Diese Reisenden konnten
mit eigenen Augen sehen, wie die italienische Kunst im Verlaufe des
15.Jahrhunderts sich von der Gotik abwandte und ein neuer Stil sich aus-
breitete. Sie konnten feststellen, daß die Bildwerke und Ruinen der An-
tike neue Beachtung fanden, daß man römische Funde sammelte und ihre
Formen in der Malerei, in der Plastik, in der Architektur der Gegenwart
verwendete. Die italienischen Fürstenhöfe wandten sich der neuen Kunst
zu und ließen ihre Residenzen in der antikischen Art ausschmücken. Der
europäische Hochadel heiratete sehr viel untereinander, ein Gonzaga zum
Beispiel vermählte sich mit einer brandenburgischen Prinzessin, die Kaiser
zogen den ghibellinischen italienischen Adel an ihren Hof, Maximilian
verband sich mit Bianca Maria Sforza von Mailand - aber trotz all dieser
zahlreichen engen Beziehungen dachte der Norden nicht daran, den spät-
gotischen Stil aufzugeben. Sinn und Bedeutung der italienischen Bewegung
wurde nicht erkannt. Nur ein enges Teilgebiet, die klassischen Studien,
finden ein literarisches Echo diesseits der Alpen.
Als Dreiundzwanzigjähriger erkannte Dürer in Venedig das Wesen der
Renaissance; entdeckte, daß sie durch Erneuerung der Antike ein vollkom-
meneres, in sich selbst ruhendes Menschenbild heraufführen wollte, das
Gültigkeit für die ganze Welt besaß. Er war von den Sternen ausersehen,
eine Tat von epochalem Ausmaße zu vollziehen: die Renaissance über die
Alpen zu tragen. Er, ein einzelner Mensch, sollte nicht nur Deutschland,
sondern dem ganzen Norden die neue im Süden gereifte Kultur übermit-
teln. Wenn jemand als Avantgardist bezeichnet zu werden verdient, so ist
es Albrecht Dürer. Das venezianische Erlebnis hat er in sich hineinge-
nommen, so daß es ihm die eigene eingeborene Gestaltungskraft erhöhte
und verstärkte. Aus Schongauers herbstlich zarter Spätgotik oder aus dem
Liniengespinst, das der Hausbuchmeister um die Wirklichkeit legte, hätte
Dürer nicht die erschütternde Sprache der Apokalypse und der Großen
Passion gewinnen können. Aus der Renaissance holte sich sein Genie den
schöpferischen Impuls, den Sinn für Größe des Menschen.
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In ununterbrochenem Zuge sind seit eh und je die Deutschen über die
Alpen gezogen: als Pilger, als Geistliche, als Gesandte, Kaufleute und
Handwerker, als Studenten und Gelehrte. Die Verbindung von Nord und
Süd kann man sich nicht eng genug vorstellen. Diese Reisenden konnten
mit eigenen Augen sehen, wie die italienische Kunst im Verlaufe des
15.Jahrhunderts sich von der Gotik abwandte und ein neuer Stil sich aus-
breitete. Sie konnten feststellen, daß die Bildwerke und Ruinen der An-
tike neue Beachtung fanden, daß man römische Funde sammelte und ihre
Formen in der Malerei, in der Plastik, in der Architektur der Gegenwart
verwendete. Die italienischen Fürstenhöfe wandten sich der neuen Kunst
zu und ließen ihre Residenzen in der antikischen Art ausschmücken. Der
europäische Hochadel heiratete sehr viel untereinander, ein Gonzaga zum
Beispiel vermählte sich mit einer brandenburgischen Prinzessin, die Kaiser
zogen den ghibellinischen italienischen Adel an ihren Hof, Maximilian
verband sich mit Bianca Maria Sforza von Mailand - aber trotz all dieser
zahlreichen engen Beziehungen dachte der Norden nicht daran, den spät-
gotischen Stil aufzugeben. Sinn und Bedeutung der italienischen Bewegung
wurde nicht erkannt. Nur ein enges Teilgebiet, die klassischen Studien,
finden ein literarisches Echo diesseits der Alpen.
Als Dreiundzwanzigjähriger erkannte Dürer in Venedig das Wesen der
Renaissance; entdeckte, daß sie durch Erneuerung der Antike ein vollkom-
meneres, in sich selbst ruhendes Menschenbild heraufführen wollte, das
Gültigkeit für die ganze Welt besaß. Er war von den Sternen ausersehen,
eine Tat von epochalem Ausmaße zu vollziehen: die Renaissance über die
Alpen zu tragen. Er, ein einzelner Mensch, sollte nicht nur Deutschland,
sondern dem ganzen Norden die neue im Süden gereifte Kultur übermit-
teln. Wenn jemand als Avantgardist bezeichnet zu werden verdient, so ist
es Albrecht Dürer. Das venezianische Erlebnis hat er in sich hineinge-
nommen, so daß es ihm die eigene eingeborene Gestaltungskraft erhöhte
und verstärkte. Aus Schongauers herbstlich zarter Spätgotik oder aus dem
Liniengespinst, das der Hausbuchmeister um die Wirklichkeit legte, hätte
Dürer nicht die erschütternde Sprache der Apokalypse und der Großen
Passion gewinnen können. Aus der Renaissance holte sich sein Genie den
schöpferischen Impuls, den Sinn für Größe des Menschen.
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