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Hartlaub, Gustav Friedrich; Münter, Gabriele [Editor]
Gabriele Münter, Menschenbilder in Zeichnungen: 20 Lichtdrucktafeln — Berlin, 1952

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https://doi.org/10.11588/diglit.20706#0011
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DIE ZEICHNERIN GABRIELE MÜNTER

Hören sie den Namen der Gabriele Münter nennen, wird den meisten Kunst-
freunden wohl der Beitrag vor Augen stehen, den diese Malerin einst zu den Aus-
stellungen des „Blauen Reiters“ geleistet hat. Gewiß hat sie nicht zu den „Extre-
misten“ gehört, die damals auszogen, um frei von den Vorschriften der äußeren
Natur ein Reich von eigenen Gnaden der Kunst und der Phantasie zu errichten.
Franz Marc’s Durchbruch zu einer unwirklich traumhaften Tier- oder gar
Kristallwelt, Paul Klees geheimnisvoll kindhaftes Spiel mit einfachsten Elementen
der Gestaltung — solchen Wagnissen hat sie nicht zu folgen versucht und am
wenigsten ist ihr der Weg ihres einstigen Lehrers und Lebensgefährten Wassily
Kandinsky zum Vorbild geworden, als er am Ende zu einer eigenständigen
Form- und Farbenmusik durchbrach. Trotzdem hat es für diejenigen, die die
Entdeckungen der Kunst vor dem ersten Weltkrieg miterlebt haben, kaum erst
der kürzlich veranstalteten Gedächtnisausstellung bedurft: der eigentümliche
Klang der Münter’schen Malerei von damals ist ihnen auch so in der Erinnerung
geblieben. Er stellte in der Polyphonie, mit der sich die Maler um den „Blauen
Reiter“ von der gleichförmigeren Art etwa der Pariser „Fauves“ oder auch der
Dresdener „Brücke“ unterschieden, eine gewichtig füllende Mittelstimme
dar. Sie waren ja keineswegs „zahm“ und herkömmlich gehalten, diese Land-
schaften und Stilleben. Entwicklungsgeschichtlich betrachtet war hier gegenüber
dem deutschen Impressionismus in selbständiger Weise eine neue Stufe erreicht.
Frühzeitig hatte die junge Künstlerin — Eindrücke primitiver Holzschnitte und
mittelalterlicher Glasfenster, vor allem aber ihrer geliebten bayrisch ländlichen
Hinterglasmalerei verschmelzend, dazu von dem Russen Kandinsky zum Erlebnis
des Reinen und Urtümlichen in Form und Farbe hingelenkt — ihren besonderen
magisch-dekorativen Flächenstil gefunden, ihre konturierenden Umrandungen,
ihre dunkel glühenden Farben.

Hatte Gabriele Münter unter den ihr Nahestehenden in jenen Jahren stürmi-
schen Aufbruchs schon immer ein statisches Elerfient dargestellt, so bewährte sich
das Fertige ihres Wesens auch später, da Künstlergruppen wie der „Blaue
Reiter“ schon lange zerstoben waren. Sie hat in ihrer Malerei bis auf den
heutigen Tag keine einschneidenden Wandlungen durchgemacht. Auf dem früh
gefundenen Boden sich immer wieder erneuernd, ohne sich also in bloßer Wieder-
holung zu verlieren, ist sie höchstens von den märchenhaften Mollklängen ihrer
Frühzeit allmählich zu mehr heiterer Harmonie gelangt.

Daß diese ihrer Grenzen bewußte Natur noch eine ganz andere Seite
hat, daß sie Möglichkeiten barg, die mit dem farbigen Ausdruck der Gemälde
nicht Zusammenhängen: dies würde ein Kunstliebhaber, der bloß von ihren
malerischen Bekundungen wüßte, kaum vermutet haben. Die Eingeweihten
freilich wußten schon immer, daß es noch eine zweite Gabriele Münter gab, eine
geheime Meisterin der reinen Linie, des puren Umrisses, und daß sie mit dieser
feinen Kunst gerade dasjenige Motiv bevorzugte, welches in der Malerei bis zu
einem gewissen Grade zurücktreten mußte, wie es ja dem „Blauen Reiter“ über-
haupt fremd geblieben ist: wir meinen den Menschen. Gewiß wird der
 
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