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Hartlaub, Gustav Friedrich; Münter, Gabriele [Editor]
Gabriele Münter, Menschenbilder in Zeichnungen: 20 Lichtdrucktafeln — Berlin, 1952

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https://doi.org/10.11588/diglit.20706#0012
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Kenner nachträglich das innerlich Zusammengehörige herausfühlen wollen, aber
der Eindruck, daß wir es mit einer seltsamen Polarität zu tun haben, bleibt
bestehen. G. Munter wirkt zudem als Zeichnerin längst nicht so einfach, so
unkompliziert. Offenbar konnte innerhalb des „Blauen Reiters“ dieser andere
Teil ihrer Möglichkeiten nicht recht zur Entfaltung kommen. Erst in den Jahren
größerer Isolierung hat sie vermocht, diesem geheimeren, noch persönlicheren
Gestaltungstrieb eine eigene Bahn zu brechen.

Die Zeichnerin scheint überhaupt von anderer Herkunft zu sein, andere Ein-
flüsse verarbeitet zu haben. Wenn man unser Buch durchblättert, wird man
sich weniger an den „Blauen Reiter“ erinnert fühlen, als etwa an den Kreis des
Münchner „Simplizissimus“. Bisweilen glaubt man es geradezu mit einem weib-
lichen Gulbransson zu tun zu haben. Freilich, bei anderen Blättern verschwindet
dieser Eindruck wieder: man denkt hier eher an „Lateinisches“, etwa an die
Handschrift eines Matisse. Schließlich erkennt der Betrachter, daß es sich auch
hier nicht um bloßen Eklektizismus handelt. Bei aller Einfühlungskraft und
Wandlungsfähigkeit weiß sich diese schöpferische Frau auch als Zeichnerin immer
wieder auf ihren ruhenden Kern zu besinnen, Fremdes abzustoßen, Wesensnahes
sich anzuverwandeln.

„Zeichnen ist weglassen“, hat ein Meister gesagt. Vollends stellt ein Gestalten,
das sich unter Verzicht auf Binnenlinien, schattierende Modellierung und farbige
Zutat, dazu ohne viel Schwellung und Akzentuierung des Strichs auszudrücken
liebt, alles Plastische nur mit Umrissen bekundend, einen Akt weglassenden
„Abziehens“, einen Akt der Abstraktion dar, um so mehr als die Zeichnerin
nicht selten ihre Linien unterbricht, abschneidet, im Leeren stehen läßt, sich damit
von der Umrißbehandlung der Klassizisten unterscheidend. Modern mutet auch
das eigentümlich Ganzheitliche ihres Stils an — wozu nicht zuletzt,
ähnlich wie bei gewissen Bildhauern, die bewußten „Verzeichnungen“ gehören:
etwa jenes häufige Verschleifen der Teilungen, Einschnitte, Gelenke, welches den
Kreaturen der Künstlerin manchmal etwas Pflanzenhaftes verleiht.

Doch die nachgiebigen Umrisse sind nicht das einzige Kennzeichen. Diese
Zeichnerin hat keine feste Manier. Immer von der Eigenart der dargestellten
Person ausgehend — wobei die bisweilen ironische Betrachtung ihrer Mit-
menschen (Mitschwestern vor allem) gelegentlich an die Karikatur streift, damit
aber auch zeitdokumentarisch wirkt —, findet sie für jede doch eine besondere
Behandlung: vom Fließenden zum Zackigen, vom Widerstandslos-Weichen zum
Kantig-Eckigen, von sprödem Staccato zur Kantilene.

Kein Zweifel, daß sich vielen unserer besten modernen Künstler das reine
Bild des Menschen verdunkelt hat, daß einige seine Gestalt haßvoll verzerren
oder womöglich ganz auslöschen. Das unmenschliche Zeitgeschehen hat sie dazu
vermocht. Um so trostvoller, daß nicht alle Schaffenden von dieser „Blindheit“
befallen sind.

Es scheinen — und wohl aus tiefen Gründen — besonders die Frauen zu sein,
die hier eine heilsame Ausnahme machen. Zu ihren Besten gehört
Gabriele Münter.

G. F. H a r 11 a u b
 
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