814
Egger: Essai sur l’histoire de la critique chez les Grecs.
jenige, mit welchem Aristoteles sich zuletzt beschäftigt hat, den er daher
auch nicht so gründlich wie andere behandeln und durchdringen konnte;
auch mochte ihm vielleicht zur Behandlung dieses Zweiges der Wissen-
schaft diejenige Gewandtheit des Geistes abgehen, die ihm bei andern
Doclrinen, deren Begründung wie deren Erneuerung, zu Gebote stand.
Immerhin, wenn man die Poetik den andern Resten Aristotelischer Philo-
sophie nähert, so begreift man sie besser und findet darin einen ernste-
ren Sinn als den, welchen ihm, seit drei Jahrhunderten, die Bewunderung
der classischen Dichter und der Commentatoren leiht. Gestützt einerseits
auf das ausschliessliche Studium griechischer Muster, andererseits auf eine
unvollkommene Theorie von der Seele, lässt die Poetik durchweg die
Spuren dieses zwiefachen Grundfehlers erkennen. Wir stossen uns oft an
der etwas mesquinen Strenge ihrer Vorschriften, wie an der Trockenheit
der Sprache, welche der Poesie ganz zu widerstreben scheint; aber eben
so zieht sie uns wieder an durch eine Menge neuer und tiefer Ansichten
über die Natur der Poesie und ihre Stellung in der menschlichen Gesell-
schaft, durch geistreiche und wahre Bemerkungen über die Kunst des Styls.
In einer Zeit wie die unsrige, in welcher alle Literaturen der bekannten
Welt sich begegnen und vermischen, in Folge einer ünpartheilichkeit und
einer Nachsicht für die unendlich mannichfachen Formen der Poesie bei so
vielen verschiedenen Völkern, vergisst man nur zu leicht, dass es in den
Künsten eine allgemeine Regel des Geschmacks giebt. Die Lectüre der
Poetik ist ein heilsames Mittel gegen diese Krankheit des modernen Gei-
stes? Die Irrthümer des Aristoteles zeigen uns die Gefahr exclusiver Theo-
rieen, aber zu derselben Zeit giebt uns die fruchtbare und klare Einfach-
heit seiner Hauptaxiome, die stets passende Anwendung mancher seiner
Lehren eine Gewähr gegen die nur zu gewöhnlichen Versuchungen des
literärischen Skepticismus und eine Befestigung unseres Glaubens an die
ewige Wahrheit der Gesetze des Schönen. So spricht sich der Verf. in
diesem, den Aristoteles ausschliesslich betreffenden Abschnitt aus, mit wel-
chem noch das verbunden werden kann, was im nächsten vierten Capitel
Q)e la critique en Grece apres Aristote. p. 229—2960 §. 4. über die
Spuren der Poetik im Mittelalter, insbesondere bei den Arabern bemerkt
wird. Diese Spuren sind allerdings sehr dürftig. Aus dem Syrischen, in
welches die Poetik übersetzt worden war, wurde im zehnten Jahrhundert
eine arabische Uebersetzung veranstaltet, von der sich eine schöne Hand-
schrift zu Paris befindet; da inzwischen der syrische und somit auch der
arabische Uebersetzer kein vollständigeres Exemplar der Poetik vor sich
hatte, als dasjenige ist, was wir jetzt besitzen, so lässt sich für die Er-
Egger: Essai sur l’histoire de la critique chez les Grecs.
jenige, mit welchem Aristoteles sich zuletzt beschäftigt hat, den er daher
auch nicht so gründlich wie andere behandeln und durchdringen konnte;
auch mochte ihm vielleicht zur Behandlung dieses Zweiges der Wissen-
schaft diejenige Gewandtheit des Geistes abgehen, die ihm bei andern
Doclrinen, deren Begründung wie deren Erneuerung, zu Gebote stand.
Immerhin, wenn man die Poetik den andern Resten Aristotelischer Philo-
sophie nähert, so begreift man sie besser und findet darin einen ernste-
ren Sinn als den, welchen ihm, seit drei Jahrhunderten, die Bewunderung
der classischen Dichter und der Commentatoren leiht. Gestützt einerseits
auf das ausschliessliche Studium griechischer Muster, andererseits auf eine
unvollkommene Theorie von der Seele, lässt die Poetik durchweg die
Spuren dieses zwiefachen Grundfehlers erkennen. Wir stossen uns oft an
der etwas mesquinen Strenge ihrer Vorschriften, wie an der Trockenheit
der Sprache, welche der Poesie ganz zu widerstreben scheint; aber eben
so zieht sie uns wieder an durch eine Menge neuer und tiefer Ansichten
über die Natur der Poesie und ihre Stellung in der menschlichen Gesell-
schaft, durch geistreiche und wahre Bemerkungen über die Kunst des Styls.
In einer Zeit wie die unsrige, in welcher alle Literaturen der bekannten
Welt sich begegnen und vermischen, in Folge einer ünpartheilichkeit und
einer Nachsicht für die unendlich mannichfachen Formen der Poesie bei so
vielen verschiedenen Völkern, vergisst man nur zu leicht, dass es in den
Künsten eine allgemeine Regel des Geschmacks giebt. Die Lectüre der
Poetik ist ein heilsames Mittel gegen diese Krankheit des modernen Gei-
stes? Die Irrthümer des Aristoteles zeigen uns die Gefahr exclusiver Theo-
rieen, aber zu derselben Zeit giebt uns die fruchtbare und klare Einfach-
heit seiner Hauptaxiome, die stets passende Anwendung mancher seiner
Lehren eine Gewähr gegen die nur zu gewöhnlichen Versuchungen des
literärischen Skepticismus und eine Befestigung unseres Glaubens an die
ewige Wahrheit der Gesetze des Schönen. So spricht sich der Verf. in
diesem, den Aristoteles ausschliesslich betreffenden Abschnitt aus, mit wel-
chem noch das verbunden werden kann, was im nächsten vierten Capitel
Q)e la critique en Grece apres Aristote. p. 229—2960 §. 4. über die
Spuren der Poetik im Mittelalter, insbesondere bei den Arabern bemerkt
wird. Diese Spuren sind allerdings sehr dürftig. Aus dem Syrischen, in
welches die Poetik übersetzt worden war, wurde im zehnten Jahrhundert
eine arabische Uebersetzung veranstaltet, von der sich eine schöne Hand-
schrift zu Paris befindet; da inzwischen der syrische und somit auch der
arabische Uebersetzer kein vollständigeres Exemplar der Poetik vor sich
hatte, als dasjenige ist, was wir jetzt besitzen, so lässt sich für die Er-